Auch der Füllfederhalter will sich meiner Führung nicht mehr unterordnen. Um kalte Umschläge werde ich Bruno bitten müssen. Dann, mit kühl umwickelten Händen, Füßen und Knien, mit dem Tuch auf der Stirn werde ich meinen Pfleger Bruno mit Papier und einem Bleistift ausrüsten; denn meinen Füllfederhalter verleihe ich ungern. Ob Bruno auch gut zuhören will und kann? Wird seine Nacherzählung auch jener Reise im Güterwagen gerecht werden, die am 12. Juni fünfundvierzig begann? Bruno sitzt an dem Tischchen unter dem Anemonenbild. Jetzt dreht er den Kopf, zeigt mir die Seite, die man Gesicht nennt, und schaut mit den Augen eines Fabeltieres links und rechts an mir vorbei. Wie er sich den Bleistift quer über den dünnen säuerlichen Mund legt, will er einen Wartenden vortäuschen. Doch angenommen, er wartet tatsächlich auf mein Wort, auf das Zeichen zum Anfang seiner Nacherzählung, — seine Gedanken kreisen um seine Knotengebilde. Bindfäden wird er knüpfen, während es Oskars Aufgabe bleibt, meine verworrene Vorgeschichte wortreich zu entwirren.
Bruno schreibt jetzt:
Ich, Bruno Münsterberg, aus Altena im Sauerland, unverheiratet und kinderlos, bin Pfleger in der Privatabteilung der hiesigen Heil-und Pflegeanstalt. Herr Matzerath, der hier seit über einem Jahr stationiert ist, ist mein Patient. Ich habe noch andere Patienten, von denen hier nicht die Rede sein kann. Herr Matzerath ist mein harmlosester Patient. Nie gerät er so außer sich, daß ich andere Pfleger rufen müßte. Er schreibt und trommelt etwas zu viel. Um seine überanstrengten Finger schonen zu können, bat er mich heute, für ihn zu schreiben und keine Knotengeburt zu machen. Ich habe mir dennoch Bindfaden in die Tasche gesteckt und werde, während er erzählt, mit den unteren Gliedmaßen einer Figur beginnen, die ich, Herrn Matzeraths Erzählung folgend, »Der Ostflüchtling« nennen werde. Dieses wird nicht die erste Figur sein, die ich den Geschichten meines Patienten entnehme.
Bisher knotete ich seine Großmutter, die ich »Apfel in vier Schlafröcken« nenne; knüpfte aus Bindfaden seinen Großvater, den Flößer, nannte den etwas gewagt »Columbus«; durch meinen Bindfaden wurde aus seiner armen Mama »Die schöne Fischesserin«; aus seinen beiden Vätern Matzerath und Jan Bronski knotete ich eine Gruppe, die »Die beiden Skatdrescher« heißt; auch schlug ich den narbenreichen Rücken seines Freundes Herbert Truczinski zu Faden, nannte das Relief »Unebene Strecke«; auch einzelne Gebäude, wie die Polnische Post, den Stockturm, das Stadttheater, die Zeughauspassage, das Schiffahrtsmuseum, Greffs Gemüsekeller, die Pestalozzischule, die Badeanstalt Brösen, die Herz-Jesu-Kirche, das Cafe Vierjahreszeiten, die Schokoladenfabrik Baltic, mehrere Bunker am Atlantikwall, den Eiffelturm zu Paris, den Stettiner Bahnhof zu Berlin, die Kathedrale zu Reims und nicht zuletzt das Mietshaus, in dem Herr Matzerath das Licht dieser Welt erblickte, bildete ich, Knoten um Knoten schlagend, nach, die Gitter und Grabsteine der Friedhöfe Saspe und Brenntau boten ihre Ornamente meinem Bindfaden an, ich ließ Fadenschlag um Fadenschlag Weichsel und Seine fließen, die Wellen der Ostsee, die Wogen des Atlantik gegen Bindfadenküsten branden, ließ Bindfaden zu kaschubischen Kartoffeläckern und dem Weideland der Normandie werden, bevölkerte die so entstandene Landschaft — die ich schlicht »Europa« nenne, mit Figurengruppen wie: Die Postverteidiger. Die Kolonialwarenhändler. Menschen auf der Tribüne.
Menschen vor der Tribüne. Volksschüler mit Schultüten. Aussterbende Museumswärter. Jugendliche Kriminelle bei den Weihnachtsvorbereitungen. Polnische Kavallerie vor Abendröte. Ameisen machen Geschichte. Fronttheater spielt für Unteroffiziere und Mannschaften. Stehende Menschen, die liegende Menschen im Lager Treblinka desinfizieren. Und jetzt beginne ich mit der Figur des Ostflüchtlings, der sich höchstwahrscheinlich in eine Gruppe von Ostflüchtlingen verwandeln wird.
Herr Matzerath fuhr am zwölften Juni fünfundvierzig, etwa um elf Uhr vormittags von Danzig, das zu jenem Zeitpunkt schon Gdansk hieß, ab. Ihn begleiteten die Witwe Maria Matzerath, die mein Patient als seine ehemalige Geliebte bezeichnet, Kurt Matzerath, meines Patienten angeblicher Sohn.
Außerdem sollen sich in dem Güterwagen noch zweiunddreißig andere Personen befunden haben, darunter vier Franziskanerinnen in Ordenstracht und ein junges Mädchen mit Kopftuch, in welchem Herr Oskar Matzerath ein gewisses Fräulein Luzie Rennwand erkannt haben will. Nach mehreren Anfragen meinerseits gibt mein Patient aber zu, daß jenes Mädchen Regina Raeck hieß, spricht aber weiterhin von einem namenlos dreieckigen Fuchsgesicht, das er dann doch immer wieder beim Namen nennt, Luzie ruft; was mich nicht hindert, jenes Mädchen hier als Fräulein Regina einzutragen. Regina Raeck reiste mit ihren Eltern, den Großeltern und einem kranken Onkel, der außer seiner Familie einen üblen Magenkrebs mit sich gen Westen führte, viel sprach und sich sofort nach der Abfahrt als ehemaliger Sozialdemokrat ausgab.
Soweit sich mein Patient erinnern kann, verlief die Fahrt bis Gdynia, das viereinhalb Jahre lang Gotenhafen hieß, ruhig. Zwei Frauen aus Oliva, mehrere Kinder und ein älterer Herr aus Langfuhr sollen bis kurz hinter Zoppot geweint haben, während sich die Nonnen aufs Beten verlegten.
In Gdynia hatte der Zug fünf Stunden Aufenthalt. Zwei Frauen mit sechs Kindern wurden noch in den Waggon eingewiesen. Der Sozialdemokrat soll dagegen protestiert haben, weil er krank war und als Sozialdemokrat von vor dem Kriege her Sonderbehandlung verlangte. Aber der polnische Offizier, der den Transport leitete, ohrfeigte ihn, als er nicht Platz machen wollte, und gab in recht fließendem Deutsch zu verstehen, daß er nicht wisse, was das bedeute, Sozialdemokrat. Er habe sich während des Krieges an verschiedenen Orten Deutschlands aufhalten müssen, während der Zeit sei ihm das Wörtchen Sozialdemokrat nie zu Gehör gekommen. — Der magenkranke Sozialdemokrat kam nicht mehr dazu, dem polnischen Offizier Sinn, Wesen und Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu erklären, weil der Offizier den Waggon verließ, die Türen zuschob und von außen verriegelte.
Ich habe vergessen, zu schreiben, daß alle Leute auf Stroh saßen oder lagen. Als der Zug am späten Nachmittag abfuhr, riefen einige Frauen: »Wir fahren wieder zurück nach Danzig.« Aber das war ein Irrtum. Der Zug wurde nur rangiert und fuhr dann westwärts in Richtung Stolp. Die Reise bis Stolp soll vier Tage gedauert haben, weil der Zug auf freier Strecke ständig von ehemaligen Partisanen und polnischen Jugendbanden aufgehalten wurde. Die Jugendlichen öffneten die Schiebetüren der Waggons, ließen etwas frische Luft hinein und entführten mit der verbrauchten Luft auch einen Teil des Reisegepäcks aus den Waggons. Immer wenn die Jugendlichen den Waggon des Herrn Matzerath besetzten, erhoben sich die vier Nonnen und hielten ihre an den Kutten hängenden Kreuze hoch. Die vier Kruzifixe beeindruckten die jungen Burschen sehr. Sie bekreuzigten sich, bevor sie die Rucksäcke und Koffer der Reisenden auf den Bahndamm warfen.
Als der Sozialdemokrat den Burschen ein Papier hinhielt, auf welchem ihm noch in Danzig oder Gdansk polnische Behörden bescheinigt hatten, daß er zahlendes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei von einunddreißig bis siebenunddreißig gewesen war, bekreuzigten sich die Burschen nicht, sondern schlugen ihm das Papier aus den Fingern, schnappten sich seine zwei Koffer und den Rucksack seiner Frau; auch jenen feinen großkarierten Wintermantel, auf dem der Sozialdemokrat lag, trug man an die frische pommersche Luft.
Dennoch behauptet Herr Oskar Matzerath, die Burschen hätten auf ihn einen vorteilhaften und disziplinierten Eindruck gemacht. Er führt das auf den Einfluß ihres Anführers zurück, der trotz seiner jungen Jahre mit knapp sechzehn Lenzen schon eine Persönlichkeit dargestellt haben soll, die den Herrn Matzerath auf schmerzliche und erfreuliche Weise zugleich an den Anführer der Stäuberbande, an jenen Störtebeker, erinnerte.
Als jener dem Störtebeker so ähnliche junge Mann Frau Maria Matzerath den Rucksack aus den Fingern ziehen wollte und schließlich auch zog, griff sich Herr Matzerath im letzten Augenblick das glücklicherweise obenliegende Fotoalbum der Familie aus dem Sack. Zuerst wollte der Bandenführer zornig werden. Als aber mein Patient das Album aufschlug und dem Burschen ein Foto seiner Großmutter Koljaiczek zeigte, ließ er, wohl an seine eigene Großmutter denkend, den Rucksack der Frau Maria fallen, legte grüßend zwei Finger an seine eckig polnische Mütze, sagte in Richtung Familie Matzerath: »Do widzenia!« und verließ, an Stelle des Matzerathschen Rucksackes den Koffer anderer Mitreisender greifend, mit seinen Leuten den Waggon.
In dem Rucksack, der dank des Familienfotoalbums im Besitz der Familie blieb, befanden sich außer einigen Wäschestücken die Geschäftsbücher und Umsatzsteuerbelege des Kolonialwarengeschäftes, die Sparbücher und ein Rubinencollier, das einst Herrn Matzeraths Mutter gehörte, das mein Patient in einem Paket Desinfektionsmittel versteckt hatte; auch machte jenes Bildungsbuch, das zur Hälfte aus Rasputinauszügen, zur anderen Hälfte aus Goethes Schriften bestand, die Reise gen Westen mit.
Mein Patient behauptet, er habe während der ganzen Reise zumeist das Fotoalbum und ab und zu das Bildungsbuch auf den Knien gehabt, habe darin geblättert, und beide Bücher sollen ihm, trotz heftigster Gliederschmerzen, viele vergnügliche, aber auch nachdenkliche Stunden beschert haben.
Weiterhin möchte mein Patient sagen: Das Rütteln und Schütteln, Überfahren von Weichen und Kreuzungen, das gestreckte Liegen auf der ständig vibrierenden Vorderachse eines Güterwagens hätten sein Wachstum gefördert. Er sei nicht mehr wie zuvor in die Breite gegangen, sondern habe an Länge gewonnen. Die geschwollenen, doch nicht entzündeten Gelenke durften sich auflockern. Selbst seine Ohren, die Nase und das Geschlechtsorgan sollen, wie ich höre, unter den Schienenstößen des Güterwagens Wachstum bezeugt haben. Solange der Transport freie Fahrt hatte, verspürte Herr Matzerath offenbar keine Schmerzen. Nur wenn der Zug hielt, weil wieder einmal Partisanen oder Jugendbanden eine Visite machen wollten, will er wieder den stechenden, ziehenden Schmerz erlitten haben, dem er, wie gesagt, mit dem schmerzstillenden Fotoalbum begegnete.
Es sollen sich außer dem polnischen Störtebeker noch mehrere andere jugendliche Räuber und gleichfalls ein älterer Partisan für die Familienfotos interessiert haben. Der alte Krieger nahm sogar Platz, versorgte sich mit einer Zigarette, blätterte bedächtig, kein Viereck auslassend, das Album durch, begann mit dem Bildnis des Großvaters Koljaiczek, verfolgte den bilderreichen Aufstieg derFamilie bis zu jenen Schnappschüssen, die Frau Maria Matzerath mit dem einjährigen, zweijährigen, dreiund vierjährigen Sohn Kurt zeigen. Mein Patient sah ihn sogar beim Betrachten mancher Familienidylle lächeln. Nur an einigen allzu deutlich erkennbaren Parteiabzeichen auf den Anzügen des verstorbenen Herrn Matzerath, auf den Rockaufschlägen des Herrn Ehlers, der Ortsbauernführer_ in Ramkau war und die Witwe des Postverteidigers Jan Bronski geheiratet hatte, nahm der Partisan Anstoß. Mit der Spitze eines Frühstücksmessers will der Patient vor den Augen des kritischen Mannes und zu dessen Zufriedenheit die fotografierten Parteiabzeichen weggekratzt haben.
Dieser Partisan soll — wie mich Herr Matzerath gerade belehren will — im Gegensatz zu vielen unechten Partisanen ein echter Partisan gewesen sein. Denn hier wird behauptet: Partisane sind nie zeitweilig Partisane, sondern sind immer und andauernd Partisane, die gestürzte Regierungen in den Sattel heben, und gerade mit Hilfe der Partisane in den Sattel gehobene Regierungen stürzen.
Unverbesserlich, sich selbst unterwandernde Partisane sind, nach Herrn Matzeraths These — was mir eigentlich einleuchten sollte — unter allen der Politik verschriebenen Menschen die künstlerisch begabtesten, weil sie sofort verwerfen, was sie gerade geschaffen haben.
Ähnliches kann ich von mir behaupten. Kommt es nicht oft genug vor, daß meine Knotengeburten, kaum daß sie im Gips einen Halt bekommen haben, mit der Faust zertrümmert werden? Ich denke da besonders an jenen Auftrag, den mir mein Patient vor Monaten gab, der da hieß, ich möchte aus schlichtem Bindfaden den russischen Gesundbeter Rasputin und den deutschen Dichterfürsten Goethe zu einer einzigen Person knüpfen, die dann auf Verlangen meines Patienten eine übersteigerte Ähnlichkeit mit ihm, dem Auftraggeber haben sollte. Ich weiß nicht, wieviel Kilometer Bindfaden ich schon geknüpft habe, damit diese beiden Extreme endlich zu einer gültigen Verknotung kommen.
Doch ähnlich jenem Partisanen, den mir Herr Matzerath als Muster preist, bleibe ich rastlos und unzufrieden; was ich rechts knüpfe, löse ich links auf, was meine Linke bildet, zertrümmert meine geballte Rechte.
Doch auch Herr Matzerath kann seine Erzählung nicht gradlinig in Bewegung halten. Abgesehen von den vier Nonnen, die er einmal Franziskanerinnen, dann Vinzentinerinnen nennt, ist es besonders jenes junge Ding, das mit seinen zwei Namen und einem einzigen, angeblich dreieckigen Fuchsgesicht seinen Bericht immer wieder auflöst und mich, den Nacherzähler, eigentlich nötigen sollte, zwei oder noch mehr Versionen jener Reise aus dem Osten nach dem Westen zu notieren. Das jedoch ist nicht mein Beruf, und so halte ich mich an den Sozialdemokraten, der während der ganzen Fahrt nicht das Gesicht wechselte, ja, nach Aussage meines Patienten, bis kurz vor Stolp allen Mitreisenden immer wieder erklärt haben soll, daß auch er bis zum Jahre siebenunddreißig als eine Art Partisan Plakate klebend seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt, seine Freizeit geopfert habe, denn er sei einer der wenigen Sozialdemokraten gewesen, die auch bei Regenwetter Plakate klebten.
So soll er auch gesprochen haben, als kurz vor Stolp der Transport zum soundsovielten Male aufgehalten wurde, weil eine größere Jugendbande ihren Besuch anmeldete. Da kaum noch Gepäck vorhanden war, gingen die Burschen dazu über, den Reisenden ihre Kleidung auszuziehen.
Vernünftigerweise beschränkten sich die jungen Leute auf Herren-Oberbekleidung. Das konnte hingegen der Sozialdemokrat nicht verstehen, weil er meinte, ein geschickter Schneider könne aus den weitläufigen Kutten der Nonnen mehrere und vorzügliche Anzüge schneidern. Der Sozialdemokrat war, wie er gläubig verkündete, ein Atheist. Die jungen Räuber jedoch hingen, ohne das gläubig zu verkünden, der alleinseligmachenden Kirche an und wollten nicht die ergiebigen Wollstoffe der Nonnen, sondern den einreihigen, leicht holzhaltigen Anzug des Atheisten. Der aber wollte Jacke, Weste und Hose nicht ausziehen, erzählte vielmehr von seiner kurzen, aber erfolgreichen Laufbahn als sozialdemokratischer Plakatkleber und wurde, als er vom Erzählen nicht lassen, sich beim Anzugausziehen widerspenstig zeigen wollte, von einem ehemaligen Wehrmachtsknobelbecher in den Magen getreten.