Die Blechtrommel (59 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Während der ersten Luftangriffe Ende Januar trugen der alte Heilandt und Matzerath noch mit vereinten Kräften den Stuhl mit Mutter Truczinski in unseren Keller. Dann ließ man sie, vielleicht auf ihren Wunsch, womöglich auch die Anstrengungen des Tragens scheuend, in der Wohnung, vor dem Fenster. Nach dem großen Angriff gegen die Innenstadt fanden Maria und Matzerath die alte Frau mit herabhängendem Unterkiefer und so verdrehtem Blick vor, als wäre ihr eine kleine klebrige Fliege ins Auge geflogen.

So wurde die Tür zum Schlafzimmer aus den Angeln gehoben. Der alte Heilandt holte aus seinem Schuppen Werkzeug und einige Kistenbretter. Derby-Zigaretten rauchend, die ihm Matzerath gegeben hatte, begann er Maß zu nehmen. Oskar half ihm bei der Arbeit. Die anderen verschwanden im Keller, weil der Artilleriebeschuß von der Höhe wieder begann.

Er wollte es schnell machen und eine schlichte, unverjüngte Kiste zusammenzimmern. Oskar war jedoch mehr für die traditionelle Sargform, ließ nicht locker, hielt ihm die Bretter so bestimmt unter die Säge, daß er sich schließlich doch noch zu jener Verjüngung zum Fußende hin entschloß, die jede menschliche Leiche für sich beanspruchen darf.

Am Ende sah der Sarg fein aus. Die Greffsche wusch Mutter Truczinski, nahm ein frischgewaschenes Nachthemd aus demSchrank, beschnitt ihre Fingernägel, ordnete ihren Dutt, gab dem mit drei Stricknadeln den nötigen Halt, kurz, sie sorgte dafür, daß Mutter Truczinski auch im Tode einer grauen Maus glich, die zu Lebzeiten gerne Malzkaffee getrunken und Kartoffelpuffer gegessen hatte.

Da sich die Maus aber während des Bombenangriffes in ihrem Stuhl verkrampft hatte und nur mit angezogenen Knien im Sarg liegen wollte, mußte ihr der alte Heilandt, als Maria mit dem Kurtchen auf dem Arm für Minuten das Zimmer verließ, beide Beine brechen, damit der Sarg vernagelt werden konnte.

Leider hatten wir nur gelbe und keine schwarze Farbe. So wurde Mutter Truczinski in ungestrichenen, aber zum Fußende hin verjüngten Brettern aus der Wohnung und die Treppen hinunter getragen.

Oskar trug seine Trommel hinterdrein und betrachtete lesend den Sargdeckel: Vitello-Margarine — Vitello-Margarine — Vitello-Margarine — stand dort dreimal in gleichmäßigen Abschnitten untereinander und bestätigte nachträglich Mutter Truczinskis Geschmacksrichtung. Sie hatte zu Lebzeiten die gute Vitello-Margarine aus reinen Pflanzenfetten der besten Butter vorgezogen; weil Margarine gesund ist, frisch hält, nährt und fröhlich macht.

Der alte Heilandt zog den Tafelwagen der Gemüsehandlung Greff mit dem Sarg durch die Luisenstraße, Marienstraße, durch den Anton-Möller-Weg — da brannten zwei Häuser — in Richtung Frauenklinik. Das Kurtchen war bei der Witwe Greff in unserem Keller geblieben. Maria und Matzerath schoben, Oskar saß drauf, wäre gerne auf den Sarg geklettert, durfte aber nicht. Die Straßen waren mit Flüchtlingen aus Ostpreußen und dem Werder verstopft. Durch die Eisenbahnunterführung vor der Sporthalle war kaum durchzukommen. Matzerath schlug vor, im Schulgarten des Conradinums ein Loch zu graben. Maria war dagegen. Der alte Heilandt, der Mutter Truczinskis Alter hatte, winkte ab. Auch ich war gegen den Schulgarten. Auf die Städtischen Friedhöfe mußten wir allerdings verzichten, da von der Sporthalle an die Hindenburgallee nur für Militärfahrzeuge offen war. So konnten wir die Maus nicht neben ihrem Sohn Herbert beerdigen, wählten ihr aber ein Plätzchen hinter der Maiwiese im Steffenspark, der den Städtischen Friedhöfen gegenüberlag.

Der Boden war gefroren. Während Matzerath und der alte Heilandt abwechselnd mit der Spitzhacke wirkten und Maria Efeu neben Steinbänken auszugraben versuchte, machte Oskar sich selbständig und war bald zwischen den Baumstämmen der Hindenburgallee. Welch ein Verkehr! Die von der Höhe und aus dem Werder zurückgezogenen Panzer schleppten sich gegenseitig ab. An den Bäumen — wenn ich mich recht erinnere, waren es Linden — hingen Volkssturmleute und Soldaten.

Pappschildchen vor ihren Uniformröcken waren einigermaßen leserlich und besagten, daß an den Bäumen oder Linden Verräter hingen. Mehreren Erhängten sah ich ins angestrengte Gesicht, stellte Vergleiche im allgemeinen und im besonderen mit dem erhängten Gemüsehändler Greff an. Auch sah ich Bündel junger Burschen in zu großen Uniformen hängen, glaubte mehrmals Störtebeker zu erkennen — erhängte Burschen sehen aber alle gleich aus — und sagte mir dennoch: jetzt haben sie den Störtebeker gehängt — ob sie auch Luzie Rennwand aufgeknüpft haben?

Dieser Gedanke beflügelte Oskar. Die Bäume links und rechts suchte er nach einem dünnen hängenden Mädchen ab, wagte sich durch die Panzer hindurch auf die andere Seite der Allee, fand aber auch dort nur Landser, alte Volkssturmmänner und Burschen, die Störtebeker glichen. Enttäuscht klapperte ich mich die Allee bis zum halbzerstörten Cafe Vier Jahreszeiten hinauf, fand nur widerstrebend zurück und hatte, als ich beim Grab der Mutter Truczinski stand und mit Maria Efeu und Laub über den Hügel streute, immer noch die feste und detaillierte Vorstellung einer hängenden Luzie.

Den Tafelwagen der Witwe Greff brachten wir nicht mehr in den Gemüseladen. Matzerath und der alte Heilandt nahmen ihn auseinander, stellten die Einzelteile vor den Ladentisch, und der Kolonialwarenhändler sagte zu dem alten Mann, dem er drei Päckchen Derby-Zigaretten einsteckte:

»Vielleicht brauchen wir den Wagen nochmal. Hier ist er einigermaßen sicher.«

Der alte Heilandt sagte nichts, griff sich aber mehrere Pakete Nudeln und zwei Tüten Zucker aus den fast leeren Regalen. Dann schlurfte er mit seinen Filzpantoffeln, die er während des Begräbnisses, auch auf dem Hin-und Rückweg angehabt hatte, aus dem Laden und überließ es Matzerath, den kümmerlichen Warenrest aus den Regalen in den Keller zu räumen.

Wir kamen jetzt kaum noch raus aus dem Loch. Es hieß, die Russen seien schon in Zigankenberg, Pietzgendorf und vor Schidlitz. Jedenfalls mußten sie auf den Höhen sitzen, denn sie schössen schnurstracks in die Stadt. Rechtstadt, Altstadt, Pfefferstadt, Vorstadt, Jungstadt, Neustadt und Niederstadt, an denen zusammen man über siebenhundert Jahre lang gebaut hatte, brannten in drei Tagen ab. Das war aber nicht der erste Brand der Stadt Danzig. Pommerellen, Brandenburger, Ordensritter, Polen, Schweden und nochmals Schweden, Franzosen, Preußen und Russen, auch Sachsen hatten zuvor schon, Geschichte machend, alle paar Jahrzehnte die Stadt verbrennenswert gefunden — und nun waren es Russen, Polen, Deutsche und Engländer gemeinsam, die die Ziegel gotischer Backsteinbaukunst zum hundertstenmal brannten, ohne dadurch Zwieback zu gewinnen. Es brannten die Häkergasse, Langgasse, Breitgasse, Große und Kleine Wollwebergasse, es brannten die Tobiasgasse, Hundegasse, der Altstädtische Graben, Vorstädtische Graben, die Wälle brannten und die Lange Brücke. Das Krantor war aus Holz und brannte besonders schön. In der Kleinen Hosennähergasse ließ sich das Feuer für mehrere auffallend grelle Hosen Maß nehmen. Die Marienkirche brannte von innen nach außen und zeigte Festbeleuchtung durch Spitzbogenfenster. Die restlichen, noch nicht evakuierten Glocken von Sankt Katharinen, Sankt Johann, Sankt Brigitten, Barbara, Elisabeth, Peter und Paul, Trinitatis und Heiliger Leichnam schmolzen in Turmgestühlen und tropften sang-und klanglos. In der Großen Mühle wurde roter Weizen gemahlen. In der Fleischergasse roch es nach verbranntem Sonntagsbraten. Im Stadttheater wurden Brandstifters Träume, ein doppelsinniger Einakter, uraufgeführt. Im Rechtstädtischen Rathaus beschloß man, die Gehälter der Feuerwehrleute nach dem Brand rückwirkend heraufzusetzen. Die Heilige-Geist-Gasse brannte im Namen des Heiligen Geistes. Freudig brannte das Franziskanerkloster im Namen des Heiligen Franziskus, der ja das Feuer liebte und ansang. Die Frauengasse entbrannte für Vater und Sohn gleichzeitig. Daß der Holzmarkt, Kohlenmarkt, Heumarkt abbrannten, versteht sich von selbst. In der Brotbänkengasse kamen die Brötchen nicht mehr aus dem Ofen. In der Milchkannengasse kochte die Milch über. Nur das Gebäude der Westpreußischen Feuerversicherung wollte aus rein symbolischen Gründen nicht abbrennen.

Oskar hat sich nie viel aus Bränden gemacht. So wäre ich auch im Keller geblieben, als Matzerath die Treppen hochsprang, um sich vom Dachboden aus das brennende Danzig anzusehen, wenn ich nicht leichtsinnigerweise auf eben jenem Dachboden meine wenigen, leicht brennbaren Habseligkeiten gelagert gehabt hätte. Es galt, meine letzte Trommel aus dem Fronttheatervorrat und meinen Goethe wie Rasputin zu retten. Auch verwahrte ich zwischen den Buchseiten einen hauchdünnen, zart bemalten Fächer, den meine Roswitha, die Raguna, zu Lebzeiten graziös zu bewegen verstanden hatte.

Maria blieb im Keller. Kurtchen jedoch wollte mit mir und Matzerath aufs Dach und das Feuer sehen.

Einerseits ärgerte ich mich über die unkontrollierte Begeisterungsfähigkeit meines Sohnes, andererseits sagte Oskar sich: Er wird es von seinem Urgroßvater, von meinem Großvater, dem Brandstifter Koljaiczek haben. Maria behielt das Kurtchen unten, ich durfte mit Matzerath hinauf, nahm meine Siebensachen an mich, warf einen Blick durch das Trockenbodenfenster und erstaunte über die sprühend lebendige Kraft, zu der sich die altehrwürdige Stadt hatte aufraffen können.

Als Granaten in der Nähe einschlugen, verließen wir den Trockenboden. Später wollte Matzerath noch einmal hinauf, aber Maria verbot es ihm. Er fügte sich, weinte, als er der Witwe Greff, die unten geblieben war, den Brand lang und breit schildern mußte. Noch einmal fand er in die Wohnung, stellte das Radio an: aber es kam nichts mehr. Nicht einmal das Feuer des brennenden Funkhauses hörte man knistern, geschweige denn eine Sondermeldung.

Fast zaghaft wie ein Kind, das nicht weiß, ob es weiterhin an den Weihnachtsmann glauben soll, stand Matzerath mitten im Keller, zog an seinen Hosenträgern, äußerte erstmals Zweifel am Endsieg und nahm sich auf Anraten der Witwe Greff das Parteiabzeichen vom Rockaufschlag, wußte aber nicht, wohin damit; denn der Keller hatte Betonfußboden, die Greffsche wollte ihm das Abzeichen nicht abnehmen, Maria meinte, er solle es in den Winterkartoffeln verbuddeln, aber die Kartoffeln waren dem Matzerath nicht sicher genug, und nach oben zu gehen, wagte er nicht, denn die mußten bald kommen, wenn sie nicht schon da waren, unterwegs waren, kämpften ja schon bei Brenntau und Oliva, als er noch auf dem Dachboden gewesen war, und er bedauerte mehrmals, den Bonbon nicht oben im Luftschutzsand gelassen zu haben, denn wenn die ihn hier unten, mit dem Bonbon in der Hand fanden — da ließ er ihn fallen, auf den Beton, wollte drauftreten und den wilden Mann spielen, doch Kurtchen und ich, wir waren gleichzeitig drüber her, und ich hatte ihn zuerst, hielt ihn auch weiterhin, als das Kurtchen zuschlug, wie es immer zuschlug, wenn es etwas haben wollte, aber ich gab meinem Sohn nicht das Parteiabzeichen, wollte ihn nicht gefährden; denn mit den Russen soll man keine Scherze treiben. Das wußte Oskar noch von seiner Rasputinlektüre her, und ich überlegte mir, während das Kurtchen auf mich einschlug, Maria uns trennen wollte, ob wohl Weißrussen oder Großrussen, ob Kosaken oder Georgier, ob Kalmücken oder gar Krimtataren, ob Ruthenen oder Ukrainer, ob womöglich Kirgisen das Matzerathsche Parteiabzeichen beim Kurtchen fänden, wenn Oskar unter den Schlägen seines Sohnes nachgäbe.

Als Maria uns mit Hilfe der Witwe Greff trennte, hielt ich den Bonbon siegreich in der linken Faust.

Matzerath war froh, daß sein Orden weg war. Maria hatte mit dem heulenden Kurtchen zu tun. Mich stach die offene Nadel in den Handteller. Nach wie vor konnte ich dem Ding keinen Geschmack abgewinnen. Doch als ich dem Matzerath seinen Bonbon gerade hinten, am Rock, wieder ankleben wollte — was ging mich schließlich seine Partei an — da waren sie gleichzeitig über uns im Laden und, was die kreischenden Frauen anging, höchstwahrscheinlich auch in den Nachbarkellern.

Als sie die Falltür hoben, stach mich die Nadel des Abzeichens immer noch. Was blieb mir zu tun übrig, als mich vor Marias zitternde Knie zu hocken und Ameisen auf dem Betonfußboden zu beobachten, deren Heerstraße von den Winterkartoffeln diagonal durch den Keller zu einem Zuckersack führte. Ganz normale, leichtgemischte Russen, schätzte ich, da an die sechs Mann auf der Kellertreppe drängten und über Maschinenpistolen Augen machten. Bei all dem Geschrei wirkte beruhigend, daß sich die Ameisen durch den Auftritt der russischen Armee nicht beeinflussen ließen.

Die hatten nur Kartoffeln und Zucker im Sinn, während jene mit den Maschinenpistolen vorerst andere Eroberungen anstrebten. Daß die Erwachsenen die Hände hochhoben, fand ich normal. Das kannte man aus den Wochenschauen; auch war es nach der Verteidigung der polnischen Post ähnlich ergebungsvoll zugegangen. Warum aber das Kurtchendie Erwachsenen nachäffte, blieb mir unerklärlich. Der hätte sich ein Beispiel an mir, seinem Vater — oder wenn nicht am Vater, dann an den Ameisen nehmen sollen. Da sich sogleich drei der viereckigen Uniformen für die Witwe Greff erwärmten, kam etwas Bewegung in die starre Gesellschaft. Die Greffsche, die solch zügigen Andrang nach so langer Witwenschaft und vorhergehender Fastenzeit kaum erwartet hatte, schrie anfangs noch vor Überraschung, fand sich dann aber schnell in jene, ihr fast in Vergessenheit geratene Lage.

Schon bei Rasputin hatte ich gelesen, daß die Russen die Kinder lieben. In unserem Keller sollte ich es erleben. Maria zitterte ohne Grund und konnte gar nicht begreifen, warum die vier, die nichts mit der Greffschen gemein hatten, das Kurtchen auf ihrem Schoß sitzen ließen, nicht selbst und abwechselnd dort Platz nahmen, vielmehr das Kurtchen streichelten, dadada zu ihm sagten und ihm, auch Maria die Wangen tätschelten.

Mich und meine Trommel nahm jemand vom Beton weg auf den Arm und hinderte mich somit, weiterhin und vergleichsweise die Ameisen zu beobachten und an ihrem Fleiß das Zeitgeschehen zu messen. Mein Blech hing mir vor dem Bauch, und der stämmige, großporige Kerl wirbelte mit dicken Fingern, für einen Erwachsenen nicht einmal ungeschickt, einige Takte, zu denen man hätte tanzen können. Oskar hätte sich gerne revanchiert, hätte gerne einige Kunststückchen aufs Blech gelegt, konnte aber nicht, weil ihn noch immer das Matzerathsche Parteiabzeichen in die linke Handfläche stach.

Fast wurde es friedlich und familiär in unserem Keller. Die Greffsche lag immer stiller werdend unter drei Kerlen abwechselnd, und als einer von denen genug hatte, wurde Oskar von meinem recht begabten Trommler an einen schwitzenden, in den Augen leicht geschlitzten, nehmen wir an, Kalmücken abgegeben. Während er mich links schon hielt, knöpfte er sich rechts die Hose zu und nahm keinen Anstoß daran, daß sein Vorgänger, mein Trommler, das Gegenteil tat. Dem Matzerath jedoch bot sich kaum Abwechslung. Immer noch stand er vor dem Regal mit den Weißblechdosen voller Leipziger Allerlei, hielt die Hände hoch, zeigte alle Handlinien; doch niemand wollte ihm aus der Hand lesen. Hingegen erwies sich die Auffassungsgabe der Frauen als erstaunlich: Maria lernte die ersten Worte Russisch, zitterte nicht mehr mit den Knien, lachte sogar und hätte auf ihrer Mundharmonika spielen können, wäre die Maultrommel greifbar gewesen.

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