Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (60 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Oskar jedoch, der sich nicht so schnell umstellen konnte, verlegte sich, Ersatz für seine Ameisen suchend, auf das Beobachten mehrerer platter, graubräunlicher Tiere, die sich auf dem Kragenrand meines Kalmücken ergingen. Gerne hätte ich solch eine Laus gefangen und untersucht, weil auch in meiner Lektüre, weniger bei Goethe, um so häufiger bei Rasputin von Läusen die Rede war. Weil ich aber mit einer einzigen Hand den Läusen schlecht beikommen konnte, trachtete ich, das Parteiabzeichen loszuwerden. Und um meine Handlungsweise zu erklären, sagt Oskar: Da der Kalmücke schon mehrere Orden an der Brust hatte, hielt ich jenen mich stechenden und am Läusefangen hindernden Bonbon dem seitwärts von mir stehenden Matzerath mit immer noch geschlossener Hand hin.

Man kann jetzt sagen, das hätte ich nicht tun sollen. Man kann aber auch sagen: Matzerath hätte nicht zuzugreifen brauchen.

Er griff zu. Ich war den Bonbon los. Matzerath erschrak nach und nach, als er das Zeichen seiner Partei zwischen den Fingern spürte. Mit nunmehr freien Händen wollte ich nicht Zeuge sein, was Matzerath mit dem Bonbon tat. Zu zerstreut, um den Läusen nachgehen zu können, wollte Oskar sich abermals auf die Ameisen konzentrieren, bekam aber doch eine rasche Handbewegung Matzeraths mit, sagt jetzt, da ihm nicht einfällt, was er damals dachte: Es wäre vernünftiger gewesen, das bunte runde Ding ruhig in der geschlossenen Hand zu halten.

Er aber wollte es loswerden und fand trotz seiner oft erprobten Phantasie als Koch und Dekorateur des Kolonialwarenladenschaufensters kein anderes Versteck als seine Mundhöhle.

Wie wichtig solch eine kurze Handbewegung sein kann! Von der Hand in den Mund, das reichte aus, die beiden Iwans, die links und rechts friedlich neben Maria gesessen hatten, zu erschrecken und von dem Luftschutzbett aufzujagen. Mit Maschinenpistolen standen sie vor Matzeraths Bauch, und jedermann konnte sehen, daß Matzerath versuchte, etwas zu verschlucken.

Hätte er doch zuvor wenigstens mit drei Fingern die Nadel des Parteiabzeichens geschlossen. Nun würgte er an dem sperrigen Bonbon, lief rot an, bekam dicke Augen, hustete, weinte, lachte und konnte bei all den gleichzeitigen Gemütsbewegungen die Hände nicht mehr oben behalten. Das jedoch duldeten die Iwans nicht. Sie schrien und wollten wieder seine Handteller sehen. Aber Matzerath hatte sich vollkommen auf seine Atmungsorgane eingestellt. Selbst husten konnte er nicht mehr richtig, geriet aber ins Tanzen und Armeschleudern, fegte einige Weißblechdosen voller Leipziger Allerlei vom Regal und bewirkte, daß mein Kalmücke, der bisher ruhig und leichtgeschlitzt zugesehen hatte, mich behutsam absetzte, hinter sich langte, etwas in die Waagerechte brachte und aus der Hüfte heraus schoß, ein ganzes Magazin leerschoß, schoß, bevor Matzerath ersticken konnte.

Was man nicht alles tut, wenn das Schicksal seinen Auftritt hat! Während mein mutmaßlicher Vater die Partei verschluckte und starb, zerdrückte ich, ohne es zu merken oder zu wollen, zwischen den Fingern eine Laus, die ich dem Kalmücken kurz zuvor abgefangen hatte. Matzerath hatte sich quer über die Ameisenstraße fallen lassen. Die Iwans verließen den Keller über die Treppe zum Laden und nahmen einige Päckchen Kunsthonig mit. Mein Kalmücke ging als letzter,griff aber keinen Kunsthonig, weil er ein neues Magazin in seine Maschinenpistole stecken mußte. Die Witwe Greff hing offen und verdreht zwischen Margarinekisten. Maria hielt das Kurtchen an sich, als wollte sie es erdrücken. Mir ging ein Satzgebilde durch den Kopf, das ich bei Goethe gelesen hatte. Die Ameisen fanden eine veränderte Situation vor, scheuten aber den Umweg nicht, bauten ihre Heerstraße um den gekrümmten Matzerath herum; denn jener aus dem geplatzten Sack rieselnde Zucker hatte während der Besetzung der Stadt Danzig durch die Armee Marschall Rokossowskis nichts von seiner Süße verloren.

SOLL ICH ODER SOLL ICH NICHT

Zuerst kamen die Rugier, dann kamen die Goten und Gepiden, sodann die Kaschuben, von denen Oskar in direkter Linie abstammt.Bald darauf schickten die Polen den Adalbert von Prag. Der kam mit dem Kreuz und wurde von Kaschuben oder Pruzzen mit der Axt erschlagen. Das geschah in einem Fischerdorf, und das Dorf hieß Gyddanyzc. Aus Gyddanyzc machte man Danczik, aus Danczik wurde Dantzig, das sich später Danzig schrieb, und heute heißt Danzig Gdansk.

Bis man jedoch zu dieser Schreibart gefunden hatte, kamen nach den Kaschuben die Herzöge von Pommerellen nach Gyddanyzc. Die hatten Namen wie: Subislaus, Sambor, Mestwin und Swantopolk.

Aus dem Dorf wurde ein Städtchen. Dann kamen die wilden Pruzzen und zerstörten die Stadt ein bißchen. Dann kamen die Brandenburger von weit her und zerstörten gleichfalls ein bißchen. Auch Boles aw von Polen wollte ein bißchen zerstören, und der Ritterorden sorgte gleichfalls dafür, daß die kaum ausgebesserten Schäden unter den Ritterschwertern wieder deutlich wurden.

Ein zerstörerisches und wiederaufbauendes Spielchen treibend wechselten sich jetzt mehrere Jahrhunderte lang die Herzöge von Pommerellen, die Hochmeister des Ritterordens, die Könige und Gegenkönige von Polen, Grafen von Brandenburg und die Bischöfe von W oc awek ab. Baumeister und Abbruchunternehmer hießen: Otto und Waldemar, Bogussa, Heinrich von Plotzke — und Dietrich von Altenberg, der die Ritterburg dorthin baute, wo man im zwanzigsten Jahrhundert, am Heveliusplatz die Polnische Post verteidigte.

Es kamen die Hussiten, machten hier und da ein Feuerchen und zogen wieder ab. Dann warf man die Ordensritter aus der Stadt, brach die Burg ab, weil man in der Stadt keine Burg haben wollte. Man wurde polnisch und fuhr nicht schlecht dabei. Der König, der das erreichte, hieß Kazimierz, wurde der Große genannt und war der Sohn des ersten W adys aw. Dann kam Ludwig und nach dem Ludwig die Hedwig. Die heiratete den Jagie o von Litauen, und es begann die Zeit der Jagiellonen. Auf W adys aw den Zweiten folgte ein dritter W adys aw, dann wieder mal ein Kazimierz, der aber keine rechte Lust hatte und dennoch dreizehn Jahre lang gutes Danziger Kaufmannsgeld im Krieg gegen den Ritterorden verpulverte. Johann Albrecht hatte dagegen mehr mit den Türken zu tun. Dem Alexander folgte Sigismund der Alte oder auch Zygmunt Stary genannt. Dem Geschichtsbuchkapitel über Sigismund August folgt das Kapitel über jenen Stefan Batory, nach dem die Polen gerne ihre Ozeandampfer benennen. Der belagerte, beschoß die Stadt längere Zeit — wie man nachlesen kann — konnte sie aber nicht einnehmen. Dann kamen die Schweden und benahmen sich auch so. Denen machte das Belagern der Stadt einen solchen Spaß, daß sie es gleich mehrmals wiederholten. Auch gefiel zu jener Zeit Holländern, Dänen, Engländern die Danziger Bucht so gut, daß es mehreren ausländischen auf der Danziger Reede kreuzenden Schiffskapitänen gelang, zu Seehelden zu werden.

Der Friede zu Oliva. — Wie hübsch und friedlich das klingt. Dort bemerkten die Großmächte zum erstenmal, daß sich das Land der Polen wunderbar fürs Aufteilen eignet. Schweden, Schweden, nochmals Schweden — Schwedenschanze, Schwedentrunk, Schwedensprung. Dann kamen die Russen und die Sachsen, weil sich in der Stadt der arme Polenkönig Stanislaw Leszczynski verbarg. Wegen des einen einzigen Königs wurden tausendachthundert Häuser zerstört, und als der arme Leszczynski nach Frankreich floh, weil dort sein Schwiegersohn Ludwig wohnte, mußten die Bürger der Stadt eine Million blechen.

Dann wurde Polen dreimal geteilt. Die Preußen kamen ungerufen und übermalten an allen Stadttoren den polnischen Königsadler mit ihrem Vogel. Es hatte der Schulmeister Johannes Falk gerade noch Zeit, das Weihnachtslied »O du fröhliche...« zu dichten, dann kamen die Franzosen. Napoleons General hieß Rapp, und an den mußten die Danziger nach einer elenden Belagerung zwanzig Millionen Franken berappen. Daß die Franzosenzeit eine schreckliche Zeit war, muß nicht unbedingt bezweifelt werden. Sie dauerte aber nur. sieben Jahre. Da kamen die Russen und Preußen und schossen die Speicherinsel in Brand. Schluß war es mit dem Freistaat, den sich Napoleon ausgedacht hatte. Abermals fanden die Preußen Gelegenheit, ihren Vogel an alle Stadttore zu pinseln, besorgten das auch fleißig-und legten erst einmal auf preußische Art das 4. Grenadier-Regiment, die 1. Artillerie-Brigade, die 1
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Pionier-Abteilung und das 1. Leibhusarenregiment in die Stadt. Nur vorübergehend hielten sich in Danzig das 30. Infanterieregiment, das 18. Infanterieregiment, das 3. Garderegiment zu Fuß, das 44. Infanterieregiment und das Füsilierregiment Numero 33 auf. Hingegen zog jenes berühmte Infanterieregiment Numero 128 erst im Jahre neunzehnhundertzwanzig ab. Um nichts auszulassen, sei noch berichtet, daß während preußischer Zeit die 1. Artillerie-Brigade zur 1.

Festungsabteilung und zur 2. Fußabteilung des ostpreußischen Artillerieregiments Numero 1 erweitert wurde. Dazu kam noch das pommersche Fußartillerieregiment Numero 2, welches später durch das westpreußische Fußartillerieregiment Numero 16 abgelöst wurde. Dem 1. Leibhusarenregiment folgte das 2. Leibhusarenregiment. Hingegen hielt sich das 8. Ulanenregiment nur kurze Zeit in den Mauern der Stadt auf. Dafür wurde außerhalb der Mauern im Vorort Langfuhr das westpreußische Train-Bataillon Numero 17 kaserniert.

Zu Burckhardts, Rauschnings und Greisers Zeiten gab es im Freistaat nur die grüne Schutzpolizei. Das wurde neununddreißig unter Forster anders. Da waren alle Backsteinkasernen wieder voller fröhlich lachender Männer in Uniform, die mit allen Waffen jonglierten. Nun könnte man aufzählen, wie alle die Einheiten hießen, die von neununddreißig bis fünfundvierzig in Danzig und Umgebung lagen oder in Danzig zur Eismeerfront eingeschifft wurden. Das jedoch unterläßt Oskar und sagt schlicht: dann kam, wie wir erfahren haben, der Marschall Rokossowski. Der erinnerte sich beim Anblick der heilen Stadt an seine großen internationalen Vorgänger, schoß erst einmal alles in Brand, damit sich jene, die nach ihm kamen, im Wiederaufbau austoben konnten.

Merkwürdigerweise kamen diesmal nach den Russen keine Preußen, Schweden, Sachsen oder Franzosen; es kamen die Polen.

Mit Sack und Pack kamen die Polen aus Wilna, Bia ystok und Lemberg und suchten sich Wohnungen.

Zu uns kam ein Herr, der sich Fajngold nannte, alleinstehend war, doch immer so tat, als umgäbe ihn eine vielköpfige Familie, welcher er Anweisungen zu geben hätte. Herr Fajngold übernahm sofort das Kolonialwarengeschäft, zeigte seiner Frau Luba, die aber weiterhin unsichtbar blieb und auch keine Antworten gab, die Dezimalwaage, den Petroleumtank, die Wurststange aus Messing, die leere Kasse und hocherfreut die Vorräte im Keller. Maria, die er sofort als Verkäuferin eingestellt und seiner imaginären Frau Luba wortreich präsentiert hatte, zeigte dem Herrn Fajngold unseren Matzerath, der schon seit drei Tagen unter einer Zeltplane im Keller lag, weil wir ihn der vielen Russen wegen, die auf den Straßen überall Fahrräder, Nähmaschinen und Frauen ausprobierten, nicht beerdigen konnten.

Als Herr Fajngold die Leiche sah, die wir auf den Rücken gedreht hatten, schlug er die Hände auf ähnliche Art ausdrucksvoll über dem Kopf zusammen, wie Oskar es vor Jahren bei seinem Spielzeughändler Sigismund Markus beobachtet hatte. Seine ganze Familie, nicht nur die Frau Luba, rief er in den Keller, und sicherlich sah er alle kommen, denn er nannte sie beim Namen, sagte Luba, Lew, Jakub, Berek, Leon, Mendel und Zonja, erklärte den Genannten, wer da liege und tot sei, und erklärte gleich darauf uns, daß alle, die er soeben gerufen habe, auch so dalagen, bevor sie in die Öfen von Treblinka kamen, dazu noch seine Schwägerin und der Schwägerin Schwestermann, der fünf Kinderchen hatte, und alle lagen, nur er, der Herr Fajngold, lag nicht, weil er Chlor streuen mußte.

Dann half er uns, den Matzerath die Treppe hoch in den Laden tragen, hatte aber schon wieder seine Familie um sich, bat seine Frau Luba, doch der Maria beim Waschen der Leiche zu helfen. Die half aber nicht, was dem Herrn Fajngold weiter nicht auffiel, weil er die Vorräte aus dem Keller in den Laden schaffte. Auch ging uns die Greffsche, die ja Mutter Truczinski gewaschen hatte, diesmal nicht zur Hand, denn die hatte die Wohnung voller Russen; man hörte sie singen.

Der alte Heilandt, der schon während der ersten Besatzungstage als Schuhmacher Arbeit fand und Russenstiefel besohlte, die während des Vormarsches durchgelaufen worden waren, wollte sich zuerst nicht als Sargschreiner betätigen. Doch als Herr Fajngold mit ihm ins Geschäft kam und für einen Elektromotor aus dem Schuppen des alten Heilandt Derbyzigaretten aus unserem Geschäft anbot, legte er die Stiefel zur Seite, nahm anderes Werkzeug und seine letzten Kistenbretter.

Wir wohnten damals, bevor wir auch dort ausgewiesen wurden und Herr Fajngold uns den Keller überließ, in Mutter Truczinskis von Nachbarn und zugereisten Polen völlig ausgeräumter Wohnung.

Der alte Heilandt nahm die Tür von der Küche zum Wohnzimmer aus den Angeln, da die Tür vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer für Mutter Truczinskis Sarg hergehalten hatte. Unten, auf dem Hof rauchte er Derbyzigaretten und zimmerte die Kiste zusammen. Wir blieben oben, und ich nahm mir den einzigen Stuhl, den man der Wohnung gelassen hatte, stieß die zerscherbten Fenster auf und ärgerte mich über den Alten, der die Kiste ohne jede Sorgfalt und ohne die vorschriftsmäßige Verjüngung zusammenkloppte.

Oskar sah Matzerath nicht mehr, denn als man die Kiste auf den Tafelwagen der Witwe Greff hob, waren Vitellos Margarinekistendeckel schon draufgenagelt, obgleich Matzerath zu Lebzeiten Margarine nicht nur nicht gegessen, sondern auch für Kochzwecke verabscheut hatte.

Maria bat den Herrn Fajngold um seine Begleitung, da sie die russischen Soldaten auf den Straßen fürchtete. Fajngold, der auf dem Ladentisch mit untergeschlagenen Beinen hockte und Kunsthonig aus einem Pappbecher löffelte, äußerte zuerst Bedenken, fürchtete das Mißtrauen seiner Frau Luba, erhielt dann wohl von seiner Gattin die Erlaubnis zum Mitgehen, denn er rutschte vom Ladentisch, gab mir den Kunsthonig, ich gab ihn an Kurtchen weiter, der das Zeug auch restlos vertilgte, während Herr Fajngold sich von Maria in einen langen schwarzen Mantel mit grauem Kaninchenfell helfen ließ.

Bevor er den Laden abschloß und seine Frau bat, niemandem zu öffnen, stellte er sich unter einen ihm zu kleinen Zylinderhut, den vormals Matzerath bei diversen Begräbnissen und Hochzeiten getragen hatte.

Der alte Heilandt weigerte sich, den Tafelwagen bis zu den Städtischen Friedhöfen zu ziehen. Er habe noch Stiefel zu besohlen, sagte er, und müsse es kurz machen. Am Max-Halbe-Platz, dessen Trümmer immer noch qualmten, bog er links in den Brösener Weg ein, und ich ahnte, daß es in Richtung Saspe ging. Die Russen saßen vor den Häusern in der dünnen Februarsonne, sortierten Armband-und Taschenuhren, putzten mit Sand Silberlöffel, benutzten Büstenhalter als Ohrenwärmer, übten Kunstfahren auf Fahrrädern, hatten sich ein Hindernisgelände aus Ölgemälden, Standuhren, Badewannen, Radioapparaten und Garderobeständern aufgebaut, radelten dazwischen Achten, Schnecken, Spiralen, wichen Gegenständen wie Kinderwagen und Hängelampen, die aus den Fenstern geworfen wurden, geistesgegenwärtig aus und wurden für ihre Geschicklichkeit mit Beifall bedacht.

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