Die Blechtrommel (58 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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»Mensch, Jeschke«, hörte ich von meiner Jungfrau herab einen der Kripos rufen, »das is doch der Sohn vom Chef!«

So genoß Oskar mit leichter Genugtuung, im Sohn des Polizeipräsidenten einen tüchtigen Unterführer gehabt zu haben, und ließ sich widerstandslos, die Rolle eines greinenden, von Halbwüchsigen verführten Dreijährigen spielend, in Obhut nehmen: Hochwürden Wiehnke nahm mich auf den Arm.

Nur die Kripos schrien. Die Jungens wurden abgeführt. Hochwürden Wiehnke mußte mich auf die Fliesen stellen, da ihn ein Schwächeanfall auf die nächste Kirchenbank zwang. Neben unserem Werkzeug stand ich, entdeckte hinter Stemmeisen und Hämmern jenen Proviantkorb voller Wurstbrote, die Dreschhase vor dem Einsatz geschmiert hatte.

Den Korb griff ich mir, ging auf die magere, im dünnen Mantel fröstelnde Luzie zu und bot ihr die Stullen an. Sie hob mich, hielt mich rechts, behängte sich links mit den Wurstbroten, hatte auch schon eine Stulle zwischen den Fingern, gleich darauf zwischen den Zähnen, und ich beobachtete ihr brennendes, geschlagenes, gedrängt volles Gesicht: die Augen rastlos hinter zwei schwarzen Schlitzen, die Haut wie gehämmert, ein kauendes Dreieck, Puppe, Schwarze Köchin, Wurst mit den Pellen fressend, beim Fressen dünner werdend, hungriger, dreieckiger, puppiger — Anblick, der mich stempelte. Wer nimmt mir das Dreieck von und aus der Stirn? Wie lange wird es noch in mir kauen, Wurst, Pellen, Menschen, und lächeln, wie nur ein Dreieck lächeln kann und Damen auf Teppichen, die sich Einhörner erziehen?

Als Störtebeker zwischen zwei Beamten abgeführt wurde und Luzie wie Oskar sein blutverschmiertes Gesicht zeigte, sah ich an ihm, ihn fortan nicht mehr erkennend, vorbei und wurde zwischen fünf oder sechs Kripos, auf dem Arm der stullenfressenden Luzie, meiner ehemaligen Stäuberbande nachgetragen.

Was blieb zurück? Hochwürden Wiehnke blieb mit unseren beiden Stabtaschenlampen, die immer noch auf Rotlicht eingestellt waren, zwischen schnell abgeworfenen Meßdienergewändern und dem Priestergewand zurück. Kelch und Monstranz blieben auf den Altarstufen. Der abgesägte Johannes und der abgesägte Jesus blieben bei jener Jungfrau, die in unserem Puttkamerkeller das Gegengewicht zu dem Teppich mit Dame und Einhorn hätte verkörpern sollen.

Oskar jedoch wurde einem Prozeß entgegengetragen, den ich heute noch den zweiten Prozeß Jesu nenne, der mit meinem und so auch mit Jesu Freispruch endete.

DIE AMEISENSTRASSE

Stellen Sie sich bitte ein azurblau gefliestes Schwimmbassin vor, im Bassin schwimmen sonnengebräunte, sportlich empfindende Menschen. Am Rande des Bassins sitzen vor den Badekabinen ähnlich gebräunte, ähnlich empfindende Männer und Frauen. Womöglich Musik aus einem Lautsprecher, den man auf leise stellte. Gesunde Langeweile, leichte und unverbindliche, die Badeanzüge straffende Erotik. Die Fliesen sind glatt, dennoch gleitet niemand aus. Nur wenige Verbotsschilder; doch auch die sind überflüssig, weil die Badenden nur für zwei Stunden kommen und alles Verbotene außerhalb der Anstalt tun. Dann und wann springt jemand vom Dreimetersprungbrett, kann aber dennoch nicht die Augen der Schwimmenden gewinnen, die Augen der liegenden Badegäste aus den illustrierten Zeitungen locken. — Plötzlich ein Lüftchen! Nein, kein Lüftchen. Vielmehr ist es ein junger Mann, der langsam, zielstrebig, von Sprosse zu Sprosse nachgreifend, die Leiter zum Zehnmetersprungturm hinaufsteigt. Schon sinken die Zeitschriften mit den Reportagen aus Europa und Übersee, Augen steigen mit ihm, liegende Körper werden länger, eine junge Frau beschattet die Stirn, jemand vergißt, woran er dachte, ein Wort bleibt unausgesprochen, eine Liebelei, gerade begonnen, endet frühzeitig, mitten im Satz — denn nun steht er gutgebaut und potent auf dem Brett, hüpft, lehnt sich gegen das sanftgebogene Stahlrohrgeländer, schaut wie gelangweilt herab, löst sich mit elegantem Beckenschwung vom Geländer, wagt sich aufs überragende, bei jedem Schritt federnde Sprungbrett, schaut hinab, erlaubt seinem Blick, sich zu einem azurenen, bestürzend kleinen Bassin zu verjüngen, in dem rot, gelb, grün, weiß, rot, gelb, grün, weiß, rot, gelb die Badekappen der Schwimmerinnen immer wieder neu durcheinander geraten. Dort müssen die Bekannten sitzen, Doris und Erika Schüler, auch Jutta Daniels mit ihrem Freund, der gar nicht zu ihr paßt. Sie winken, auch Jutta winkt. Um sein Gleichgewicht besorgt, winkt er zurück. Die rufen. Was wollen die denn? Er soll machen, rufen die, springen, ruft Jutta. Aber er hatte doch gar nicht vor, wollte doch nur einmal gucken, wie es oben ist, und dann wieder langsam, Sprosse um Sprosse greifend, absteigen. Und nun rufen sie, daß es alle hören können, rufen laut: Spring! Nu, spring schon! Spring!

Das ist, werden Sie zugeben müssen, so nah man sich auf einem Sprungturm dem Himmel befinden mag, eine verteufelte Lage. Ähnlich, wenn auch nicht während der Badesaison, erging es im Januar fünfundvierzig den Mitgliedern der Stäuberbande und mir. Wir hatten uns hoch hinauf gewagt, drängelten nun auf dem Sprungbrett, und unten, ein feierliches Hufeisen ums wasserlose Bassin bildend, saßen die Richter, Beisitzer, Zeugen und Gerichtsdiener.

Da trat Störtebeker auf das federnde Brett ohne Geländer.»Spring!« rief der Richterchor.

Aber Störtebeker sprang nicht.

Da erhob sich unten auf den Zeugenbänken eine schmale Mädchengestalt, die ein Berchtesgadener Jäckchen und einen grauen Faltenrock trug. Ein weißes, aber nicht verschwommenes Gesicht — von dem ich noch heute behaupte, daß es ein Dreieck bildete — hob sie wie eine blinkende Zielmarkierung; und Luzie Rennwand rief nicht, sondern flüsterte: »Spring, Störtebeker, spring!«

Da sprang Störtebeker, und Luzie setzte sich wieder aufs Holz der Zeugenbank, zog die Ärmel ihres gestrickten Berchtesgadener Jäckchens lang und über ihre Fäuste.

Moorkähne hinkte aufs Sprungbrett. Die Richter forderten ihn zum Sprung auf. Aber Moorkähne wollte nicht, lächelte verlegen seine Fingernägel an, wartete, bis Luzie die Ärmel freigab, die Fäuste aus der Wolle fallen ließ und ihm das schwarzgerahmte Dreieck mit den Strichaugen zeigte. Da sprang er zielbesessen auf das Dreieck zu und erreichte es dennoch nicht.

Kohlenklau und Putte, die sich während des Aufstieges schon nicht grün gewesen waren, gerieten auf dem Sprungbrett aneinander. Putte wurde gestäubt, und selbst beim Sprung ließ Kohlenklau nicht von Putte ab.

Dreschhase, der lange seidige Wimpern hatte, schloß seine grundlos traurigen Rehaugen vor dem Sprung.

Bevor sie sprangen, mußten die Luftwaffenhelfer ihre Uniformen ausziehen.

Auch durften die Brüder Rennwand nicht als Meßdiener vom Sprungbrett in den Himmel hinabspringen; das hätte Luzie, ihr Schwesterchen, das in fadenscheiniger Kriegswolle auf der Zeugenbank saß und den Sprungsport förderte, niemals geduldet.

Im Gegensatz zur Historie sprangen zuerst Belisar und Narses, dann Totila und Teja.

Blaubart sprang, Löwenherz sprang, das Fußvolk der Stäuberbande: Nase, Buschmann, Ölhafen, Pfeifer, Kühnesenf, Jatagan und Faßbinder sprangen.

Als Stuchel sprang, ein verwirrend schielender Untersekundaner, der eigentlich nur halb und zufällig zur Stäuberbande gehörte, blieb einzig Jesus auf dem Sprungbrett zurück und wurde von den Richtern im Chor als Oskar Matzerath zum Sprung aufgefordert, welcher Aufforderung Jesus nicht nachkam.

Und als sich in der Zeugenbank die gestrenge Luzie mit dem dünnen Mozartzopf zwischen den Schulterblättern erhob, die Strickjackenarme ausbreitete und, ohne den verkniffenen Mund zu bewegen, flüsterte: »Spring, süßer Jesus, spring!« da begriff ich die verführerische Natur eines Zehnmetersprungbrettes, da rollten sich kleine graue Kätzchen in meinen Kniekehlen, da paarten sich Igel unter meinen Fußsohlen, da wurden Schwalben in meinen Achselhöhlen flügge, da lag mir die Welt zu Füßen und nicht nur Europa. Da tanzten Amerikaner und Japaner einen Fackeltanz auf der Insel Luzon. Da verloren Schlitzäugige und Rundäugige Knöpfe an ihren Monturen. Da gab es aber in Stockholm einen Schneider, der nähte zum selben Zeitpunkt Knöpfe an einen dezent gestreiften Abendanzug. Da fütterte Mountbatten die Elefanten Birmas mit Geschossen aller Kaliber. Da lehrte gleichzeitig eine Witwe in Lima ihren Papagei das Wörtchen »Caramba« nachsprechen. Da schwammen mitten im Pazifik zwei mächtige, wie gotische Kathedralen verzierte Flugzeugträger aufeinander zu, ließen ihre Flugzeuge starten und versenkten sich gegenseitig. Die Flugzeuge aber konnten nicht mehr landen, hingen hilflos und rein allegorisch gleich Engeln in der Luft und verbrauchten brummend ihren Brennstoff. Das jedoch störte einen Straßenbahnschaffner in Haparanda, der gerade Feierabend gemacht hatte, überhaupt nicht. Eier schlug er sich in die Pfanne, zwei für sich, zwei für seine Verlobte, auf deren Ankunft er lächelnd und alles vorausbedenkend wartete. Natürlich hätte man auch voraussehen können, daß sich die Armeen Konjews und Schukows abermals in Bewegung setzen würden; während es in Irland regnete, durchbrachen sie die Weichselfront, nahmen Warschau zu spät und Königsberg zu früh und konnten dennoch nicht verhindern, daß einer Frau in Panama, die fünf Kinder hatte und einen einzigen Mann, die Milch auf dem Gasherd anbrannte. So blieb es auch nicht aus, daß der Faden des Zeitgeschehens, der vorne noch hungrig war, Schlingen schlug und Geschichte machte, hinten schon zur Historie gestrickt wurde. Auch fiel mir auf, daß Tätigkeiten wie:

Daumendrehen, Stirnrunzeln, Köpfchensenken, Händeschütteln, Kindermachen, Falschgeldprägen, Lichtausknipsen, Zähneputzen, Totschießen und Trockenlegen überall, wenn auch nicht gleichmäßig geschickt, geübt wurden. Mich verwirrten diese vielen zielstrebigen Aktionen. Deshalb wandte meine Aufmerksamkeit sich wieder dem Prozeß zu, der mir zu Ehren am Fuße des Sprungturmes veranstaltet wurde. »Spring, süßer Jesus, spring«, flüsterte die frühreife Zeugin Luzie Rennwand. Sie saß auf Satans Schoß, was ihre Jungfräulichkeit noch betonte. Er bereitete ihr Lust, indem er ihr ein Wurstbrot reichte. Sie biß zu und blieb dennoch keusch. »Spring, süßer Jesus!« kaute sie und bot mir ihr unverletztes Dreieck.

Ich sprang nicht und werde nie von Sprungtürmen springen. Das war nicht Oskars letzter Prozeß. Man hat mich mehrmals und noch in letzter Zeit zum Sprung verführen wollen. Wie beim Stäuberprozeß gab es auch beim Ringfingerprozeß — den ich besser den dritten Prozeß Jesu nenne — Zuschauer genug am Rande des azurgefliesten Bassins ohne Wasser. Auf Zeugenbänken saßen sie, wollten durch und nach meinem Prozeß weiterleben.

Ich aber machte kehrt, erstickte die flüggen Schwalben in meinen Achselhöhlen, erdrückte die unter meinen Sohlen Hochzeit feiernden Igel, hungerte die grauen Kätzchen in meinen Kniekehlen aus— und ging steif, die Hochgefühle des Sprunges verschmähend, auf das Geländer zu, schwang mich in die Leiter, stieg ab, ließ mir von jeder Leitersprosse bestätigen, daß man Sprungtürme nicht nur besteigen, sondern auch sprunglos wieder verlassen kann.

Unten erwarteten mich Maria und Matzerath. Hochwürden Wiehnke segnete mich ungefragt. Gretchen Scheffler hatte mir ein Wintermäntelchen mitgebracht, auch Kuchen. Das Kurtchen war gewachsen und wollte mich weder als Vater noch als Halbbruder erkennen. Meine Großmutter Koljaiczek hielt ihren Bruder Vinzent am Arm. Der kannte die Welt und redete wirr.

Als wir das Gerichtsgebäude verließen, kam ein Beamter in Zivil auf Matzerath zu, übergab dem ein Schreiben und sagte: »Sie sollten sich das wirklich noch einmal überlegen, Herr Matzerath. Das Kind muß von der Straße fort. Sie sehen ja, von welchen Elementen solch ein hilfloses Geschöpf mißbraucht wird.«

Maria weinte und hängte mir meine Trommel um, die Hochwürden Wiehnke während des Prozesses an sich genommen hatte. Wir gingen zur Straßenbahnhaltestelle am Hauptbahnhof. Das letzte Stück trug mich Matzerath. Über seine Schulter hinweg blickte ich zurück, suchte ein dreieckiges Gesicht in der Menge, wollte wissen, ob sie auch auf den Sprungturm mußte, ob sie Störtebeker und Moorkähne nachsprang, oder ob sie gleich mir die zweite Möglichkeit einer Leiter, den Abstieg wahrgenommen hatte.

Bis zum heutigen Tage habe ich es mir nicht abgewöhnen können, auf den Straßen und Plätzen nach einem mageren, weder hübschen noch häßlichen, dennoch unentwegt Männer mordenden Backfisch Umschau zu halten. Selbst im Bett meiner Heil-und Pflegeanstalt erschrecke ich, wenn Bruno mir unbekannten Besuch meldet. Mein Entsetzen heißt dann: jetzt kommt Luzie Rennwand und fordert dich als Kinderschreck und Schwarze Köchin letztmals zum Sprung auf.

Zehn Tage lang überlegte sich Matzerath, ob er den Brief unterschreiben und ans Gesundheitsministerium abschicken sollte. Als er ihn am elften Tag unterschrieben abschickte, lag die Stadt schon unter Artilleriebeschuß, und es war fraglich, ob die Post noch Gelegenheit fände, den Brief weiterzusenden. Panzerspitzen der Armee des Marschalls Rokossowski drangen bis Elbing vor.

Die zweite Armee, von Weiß, bezog Stellung auf den Höhen um Danzig. Es begann das Leben im Keller.

Wie wir alle wissen, befand sich unser Keller unter dem Laden. Man konnte ihn vom Kellereingang im Hausflur, gegenüber der Toilette, achtzehn Stufen hinabsteigend, hinter Heilandts und Katers Keller, vor Schlagers Keller erreichen. Der alte Heilandt war noch da. Frau Kater jedoch, auch der Uhrmacher Laubschad, Eykes und Schlagers waren mit einigen Bündeln davon. Von ihnen, auch von Gretchen und Alexander Scheffler hieß es später, sie seien in letzter Minute an Bord eines ehemaligen KdF-Schiffes gegangen und ab, Richtung Stettin oder Lübeck oder auch auf eine Mine und in die Luft geflogen; auf jeden Fall war über die Hälfte der Wohnungen und Keller leer.

Unser Keller hatte den Vorteil eines zweiten Einganges, der, wie wir gleichfalls alle wissen, aus einer Falltür 'im Laden hinter dem Ladentisch bestand. So konnte auch niemand sehen, was Matzerath in den Keller brachte, was er aus dem Keller holte. Es hätte uns auch niemand die Vorräte gegönnt, die Matzerath während der Kriegsjahre zu stapeln verstanden hatte. Der trockenwarme Raum war voller Lebensmittel wie: Hülsenfrüchte, Teigwaren, Zucker, Kunsthonig, Weizenmehl und Margarine. Kisten Knäckebrot lasteten auf Kisten Palmin. Konservendosen mit Leipziger Allerlei stapelten sich neben Dosen mit Mirabellen, Jungen Erbsen, Pflaumen auf Regalen, die der praktische Matzerath selbst angefertigt und auf Dübeln an den Wänden befestigt hatte. Einige, etwa Mitte des Krieges auf Greffs Veranlassung hin zwischen Kellerdecke und Betonboden gekeilte Balken sollten dem Lebensmittellager die Sicherheit eines vorschriftsmäßigen Luftschutzraumes geben. Mehrmals wollte Matzerath die Balken wieder wegschlagen, da Danzig außer Störangriffen kein größeres Bombardement erlebte. Doch als der Luftschutzwart Greff nicht mehr mahnte, bat ihn Maria um den Verbleib der stützenden Balken. Für Kurtchen forderte sie Sicherheit und manchmal auch für mich.

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