Arbeiter der Kiesgrube hatten die drei Verletzten und die Leiche Schmuhs aus dem Wagen gezogen.
Der Unfallwagen war schon unterwegs. Ich kletterte in die Grube hinab, hatte die Schuhe bald voller Kies, kümmerte mich ein wenig um die Verletzten, sagte ihnen, die trotz der Schmerzen Fragen stellten, aber nicht, daß Schmuh tot sei. Starr und erstaunt blickte er gegen den dreiviertel bedeckten Himmel. Die Zeitung mit seiner Nachmittagsbeute hatte es aus dem Wagen geschleudert. Zwölf Sperlinge zählte ich, konnte den dreizehnten nicht finden, suchte den aber immer noch, als der Unfallwagen schon in die Kiesgrube geschleust wurde.
Schmuhs Gattin, Klepp und Scholle hatten leichte Verletzungen erlitten: Prellungen, einige gebrochene Rippen. Als ich später Klepp im Krankenhaus besuchte und nach der Ursache des Unfalls befragte, erzählte er mir eine erstaunliche Geschichte: Als sie langsam, der ausgefahrenen Umleitungsstraße wegen, an der Kiesgrube vorbeifuhren, habe es plötzlich hundert, wenn nicht Hunderte von Sperlingen gegeben, die aus Hecken, Büschen, Obstbäumen aufwölkten, den Mercedes beschatteten, gegen die Windschutzscheibe stießen, Schmuhs Gattin erschreckten und mit bloßer Sperlingskraft den Unfall und Tod des Wirtes Schmuh bewirkten.
Man mag zu Klepps Bericht stehen, wie man will; Oskar bleibt skeptisch, zumal er, als Schmuh beerdigt wurde, auf dem Südfriedhof nicht mehr Sperlinge zählte, als er vor Jahren gezählt hatte, da er noch Steinmetz und Schrifthauer zwischen den Grabsteinen gewesen war. Dafür sah ich, der ich mit geliehenem Zylinder zwischen dem Trauergefolge hinter dem Sarg herging, auf Feld neun den Steinmetz Korneff, der dort mit einem mir unbekannten Gehilfen eine Diabaswand für ein zweistelliges Grab versetzte. Als der Sarg mit dem Wirt Schmuh an dem Steinmetz vorbei und aufs neuangelegte Feld zehn getragen wurde, zog der nach Friedhofsvorschrift die Mütze, erkannte mich, womöglich des Zylinders wegen, nicht, rieb sich aber seinen Nacken, was auf reifende oder überreife Furunkel schließen ließ.
Begräbnisse! Ich habe Sie schon auf soviele Friedhöfe führen müssen, sage auch an irgendeiner Stelle: Begräbnisse erinnern immer an andere Begräbnisse — will deshalb nicht über Schmuhs Begräbnis und Oskars rückwärts gerichtete Gedanken während des Begräbnisses berichten — Schmuh kam ordentlich, ohne daß sich Außergewöhnliches ereignete, unter die Erde — verschweige Ihnen aber nicht, daß mich nach dem Begräbnis — man gab sich zwanglos, da die Witwe im Krankenhaus lag — ein Herr ansprach, der sich Dr. Dösch nannte.
Dr. Dösch leitete eine Konzertagentur. Die Konzertagentur gehörte ihm aber nicht. Außerdem stellte sich Dr. Dösch als ehemaliger Gast des Zwiebelkellers vor. Ich hatte ihn nie bemerkt. Er jedoch war anwesend gewesen, als ich Schmuhs Gäste zu lallenden, glückseligen Kleinkindern gemacht hatte. Ja, Dösch selber hatte, wie er mir vertraulich berichtete, unterm Einfluß meiner Blechtrommel zur seligen Kindheit zurückgefunden und wollte nun mich und meinen — wie er es nannte — »dollen Trick« ganz groß herausbringen. Er habe Vollmachten, mir einen Vertrag, einen Bombenvertrag vorzulegen; ich könne gleich unterzeichnen. Vor dem Krematorium, wo der Schugger Leo, der in Düsseldorf Sabber Willem hieß, mit weißen Handschuhen das Trauergefolge erwartete, zog er ein Papier hervor, das mich gegen enorme Geldsummen verpflichten sollte, als »Oskar, der Trommler« Soloveranstaltungen in großen Häusern, allein auf der Bühne vor zwei-bis dreitausend besetzten Sitzplätzen, zu bestreiten.
.Dösch war untröstlich, als ich nicht sogleich unterzeichnen wollte. Ich gab Schmuhs Tod als Grund an, sagte, ich könne, da Schmuh mir zu Lebzeiten sehr nahegestanden habe, nicht sofort, noch auf dem Friedhof einen neuen Brotherrn suchen, wolle mir aber die Sache überlegen, vielleicht eine kleine Reise machen, ihn, den Herrn Dr. Dösch dann aufsuchen und gegebenenfalls das unterschreiben, was er einen Arbeitsvertrag nenne.Wenn ich auch auf dem Friedhof keinen Vertrag unterschrieb, sah Oskar sich seiner unsicheren finanziellen Lage wegen dennoch genötigt, einen Vorschuß anzunehmen und einzustecken, den jener Dr. Dösch mir außerhalb des Friedhofes, auf dem Friedhofsvorplatz, wo Dösch seinen Wagen geparkt hatte, diskret und in einem Kuvert versteckt, mit seinem Visitenkärtchen anbot.
Und ich machte die Reise, fand sogar einen Reisebegleiter. Eigentlich hätte ich die Reise lieber mit Klepp gemacht. Aber Klepp lag im Krankenhaus und durfte nicht lachen, weil er sich vier Rippen gebrochen hatte. Auch hätte ich mir gerne Maria zur Reisebegleiterin gewünscht. Die Sommerferien hielten noch an, das Kurtchen hätte man mitnehmen können. Sie aber hatte es immer noch mit ihrem Chef, dem Stenzel, der sich vom Kurtchen »Papa Stenzel« nennen ließ.
So reiste ich mit dem Maler lankes. Sie kennen Lankes als Obergefreiten Lankes, auch als zeitweiligen Verlobten der Muse Ulla. Als ich mit dem Vorschuß und meinem Sparbüchlein in der Tasche den Maler Lankes in der Sittarder Straße, wo er sein Atelier hatte, aufsuchte, hoffte ich, bei ihm meine ehemalige Kollegin Ulla zu finden; denn mit der Muse wollte ich die Reise machen.
Ich fand Ulla bei dem Maler. Schon vor vierzehn Tagen, verriet sie mir in der Tür, haben wir uns verlobt. Mit Manschen Krages sei das nicht mehr gegangen, sie habe sich wieder entloben müssen; ob ich Hänschen Krages kenne?
Oskar kannte Ullas letzten Verlobten nicht, bedauerte das sehr, machte dann seinen generösen Reisevorschlag und mußte erleben, daß der dazukommende Maler Lankes, bevor Ulla zusagen konnte, sich seinerseits zum Reisebegleiter Oskars machte und die Muse, die langbeinige Muse mit Ohrfeigen traktierte, weil die nicht zu Hause bleiben wollte und deshalb zu Tränen kam.
Warum wehrte sich Oskar nicht? Warum ergriff er, der er doch mit der Muse reisen wollte, nicht die Partei der Muse? So schön ich mir auch eine Reise an Ullas überschlanker hellbeflaumter Seite vorstellte, fürchtete ich mich dennoch vor allzu nahem Zusammenleben mit einer Muse. Mit Musen muß man Distanz bewahren, sagte ich mir, sonst wird der Musenkuß zur hausbackenen Gewohnheit.
Da reise ich lieber mit dem Maler Lankes, der seine Muse schlägt, wenn sie ihn küssen will.
Über unser Reiseziel gab es keine lange Diskussion. Es kam nur die Normandie in Frage. Die Bunker zwischen Caen und .Cabourg wollten wir besuchen. Denn dort hatten wir uns während des Krieges kennengelernt. Schwierigkeiten alleine bereitete das Beschaffen der Visen. Doch über Visageschichten verliert Oskar kein Wort.
Lankes ist ein geiziger Mensch. So verschwenderisch er mit allerdings billigen oder erbettelten Farben auf schlechtgrundierten Leinwänden umgeht, so haushälterisch verkehrt er mit Papier-und Hartgeld.
Nie kauft er sich Zigaretten, raucht aber ständig. Um das Systematische seines Geizes deutlich zu machen, sei hier berichtet: sobald ihm jemand eine Zigarette schenkt, entnimmt er seiner linken Hosentasche ein Zehnpfennigstück, lüftet die Münze kurz, läßt sie dann in die rechte Hosentasche zu, je nach Tageszeit, mehr oder weniger vielen Groschenstücken gleiten. Er raucht fleißig und verriet mir einst bei guter Laune: »Tagtäglich rauch ich mich runde zwei Mark zusammen!«
Jenes Trümmergrundstück in Wersten, das Lankes vor etwa einem Jahr kaufte, hat er sich mit den Zigaretten seiner nahen und fernen Bekanntschaften erworben oder, besser gesagt, erraucht.
Mit diesem Lankes fuhr Oskar in die Normandie. Wir nahmen einen D-Zug. Lankes hätte lieber Autostop gemacht. Da ich jedoch zahlte und zu der Reise einlud, mußte er nachgeben. Von Caen nach Cabourg fuhren wir mit dem Autobus. An Pappeln ging es vorbei, hinter denen sich Wiesen mit Hecken abgrenzten. Braunweiße Kühe gaben dem Land das Aussehen einer Milchschokoladenreklame. Allerdings hätte man auf dem Glanzpapier nichts von den immer noch deutlichen Kriegsschäden zeigen dürfen, die jedes Dorf, so auch das Dörfchen Bavent, in dem ich meine Roswitha verloren hatte, zeichneten und unansehnlich machten.
Von Cabourg aus liefen wir den Strand entlang gegen die Orne-mündung. Es regnete nicht. Unterhalb Le Home sagte Lankes: »Wir sin z' Haus, Jong! Gib mich mal'n Zigarett'.« Noch während er die Münze von Tasche zu Tasche umziehen ließ, deutete sein immer vorgestreckter Wolfskopf auf einen der zahlreichen unversehrten Bunker in den Dünen. Langatmig faßte er seinen Rucksack, die Feldstaffelei und das Dutzend Keilrahmen links, faßte mich rechts, zog mich dem Beton entgegen. Ein Köfferchen und die Trommel machten Oskars Gepäck aus.
Am dritten Tag unseres Aufenthaltes an der Atlantikküste — wir hatten inzwischen das Innere des Bunkers Dora sieben vom Flugsand befreit, hatten die häßlichen Spuren unterschlupfsuchender Liebespaare beseitigt, hatten den Raum mittels einer Kiste, auch mit unseren Schlafsäcken wohnlich gemacht — brachte Lankes einen ordentlichen Kabeljau vom Strand mit. Fischer hatten ihm den gegeben. Er malte ihnen das Boot ab, sie halsten ihm den Kabeljau auf.
Da wir den Bunker immer noch Dora sieben nannten, war es kein Wunder, daß Oskar, während er den Fisch ausnahm, seine Gedanken zur Schwester Dorothea schickte. Leber und Milch des Fisches quollen ihm über beide Hände. Ich schuppte den Kabeljau gegen die Sonne, was Lankes zum Anlaß für ein fix hingeschludertes Aquarell nahm. Wir saßen windgeschützt hinter dem Bunker. Die Augustsonne stand Kopf auf der Betonkuppel. Ich begann den Fisch mit Knoblauchzehen zu spicken.
Was zuvor Milch, Leber, die Eingeweide fällten, stopfte ich mit Zwiebeln, Käse und Thymian, warf aber Milch und Leber nicht fort, lagerte vielmehr beide Delikatessen im Rachen des Fisches, den ich mittels einer Zitrone aufsperrte. Lankes schnüffelte in der Gegend. Besitzergreifend verschwand er in Dora vier, drei und weiter entfernten Bunkern. Mit Brettern und größeren Kartons, die er als Malfläche benutzte, kehrte er zurück und gab das Holz dem Feuerdien.
Wir unterhielten den ganzen Tag über solch ein Feuer mühelos; denn den Strand spießte alle zwei Schritte angeschwemmtes, federleicht ausgetrocknetes Holz und warf wechselnde Schatten. Ich legte den Teil eines eisernen Balkongitters, den Lankes einer verlassenen Strandvilla abgerissen hatte, auf die inzwischen reife Holzkohlenglut. Mit Olivenöl rieb ich den Fisch ein, lagerte ihn auf dem heißen, gleichfalls geölten Rost. Zitronen drückte ich über dem knisternden Kabeljau aus, ließ ihn langsam — denn einen Fisch soll man nicht forcieren — tischgerecht werden.
Unseren Tisch erstellten wir aus mehreren leeren Eimern und einer drübergelegten, ausladenden, mehrmals geknickten Teerpappe. Gabeln und Blechteller führten wir mit uns. Um Lankes abzulenken
-aashungrig wie eine Möwe strich er um den gemächlich durchziehenden Fisch — holte ich meine Trommel aus dem Bunker. Ich bettete sie im Seesand und wirbelte, ständig wechselnd, die Geräusche der Brandung und beginnenden Flut auflockernd, gegen den Wind: Bebras Fronttheater besichtigte den Beton. Von der Kaschubei in die Normandie. Felix und Kitty, die beiden Akrobaten, verknoteten, entknoteten sich auf dem Bunker, sagten gegen den Wind — wie ja auch Oskar gegen den Wind trommelte — ein Gedicht auf, dessen Kehrreim mittem im Krieg ein nahendes, urgemütliches Zeitalter ankündigte: »...und freitags Fisch, auch Spiegeleier, wir nähern uns dem Biedermeier«, deklamierte die sächselnde Kitty; und Bebra, mein weiser Bebra und Hauptmann der Propagandakompanie, nickte; und Roswitha, meine Raguna vom Mittelmeer, hob den Picknickkorb, deckte auf dem Beton, auf Dora sieben den Tisch; auch der Obergefreite Lankes aß vom Weißbrot, trank von der Schokolade, rauchte die Zigaretten des Hauptmanns Bebra ...
»Mensch, Oskar!« rief mich Lankes der Maler zurück. »So möcht ich malen können, wie du trommelst; gib' mich mal'n Zigarett!« Da ließ ich von der Trommel ab, versorgte meinen Reisebegleiter mit einer Zigarette, prüfte den Fisch und fand ihn gut: sanft, weiß und locker quollen seine Augen. Langsam und keine Stelle vergessend drückte ich eine letzte Zitrone über der teils gebräunten, teils geplatzten Haut des Kabeljaus aus.
»Ich han Hunger!« hieß es bei Lankes. Seine langen,'spitzgelben Zähne zeigte er und schlug sich affenartig mit beiden Fäusten die Brust unterm karierten Hemd.
»Kopf oder Schwanz?« gab ich zu bedenken und schob den Fisch auf ein Pergamentpapier, das als Tischdecke die Teerpappe bedeckte. »Wat rätste mir?« Lankes knipste die Zigarette aus und verwahrte die Kippe.
»Als Freund würde ich sagen: Nimm den Schwanz. Als Koch kann ich dir nur den Kopf empfehlen.
Meine Mama jedoch, die eine große Fischesserin war, würde jetzt sagen: Herr Lankes, nehmen Sie den Schwanz, da wissen Sie, was Sie haben. Meinem Vater hingegen pflegte der Arzt zu raten . . .«
»Middem Arzt han ich nix zu tun«, mißtraute mir Lankes.
»Doktor Hollatz riet meinem Vater immer, vom Kabeljau oder, wie man bei uns sagte, vom Dorsch nur den Kopf zu essen.«
»Dann nehm' ich den Schwanz. Du willst mir was andrehen, merk ich doch!« Lankes bewahrte sein Mißtrauen.
»Um so besser für Oskar. Ich weiß den Kopf zu schätzen.«
»Dann nehm' ich doch den Kopp, wenn du so scharf drauf bist.«
»Du hast es schwer, Lankes !« wollte ich den Dialog abschließen. »Der Kopf ist für dich, ich nehm den Schwanz.«
»Was Jong, da han ich dich reinjelegt, oder?«
Oskar gab zu, daß Lankes ihn reingelegt hatte. Wußte ich doch, daß es ihm nur schmecken konnte, wenn er gleichzeitig mit dem Fisch die Gewißheit zwischen den Zähnen hatte, mich reingelegt zu haben. Einen dollen, gerissenen Hund nannte ich ihn, einen Glückspilz, einen Sonntagsjungen — dann fielen wir über den Kabeljau her.
Er nahm das Kopfstück, ich drückte restlichen Zitronensaft übers weiße, auseinanderfallende Fleisch des Schwanzstückes, aus dem sich die butterweichen Knoblauchzehen lösten.
Lankes spreizte Gräten zwischen den Zähnen, spähte zu mir und dem Schwanzstück herüber: »Laß mich mal probieren, von deinem Schwanz.« Ich nickte, er probierte, blieb unschlüssig, bis Oskar von seinem Kopfstück probierte und ihn abermals beruhigte: er habe wie immer das bessere Stück erwischt.
Wir tranken Bordeaux zum Fisch. Ich bedauerte das, hätte lieber Weißwein in den Kaffeetassen gehabt. Lankes wischte meine Bedenken fort, erinnerte sich, daß man zu seiner Obergefreitenzeit in Dora sieben immer nur Rotwein getrunken habe, bis die Invasion begann: »Mensch, waren wir voll, als das hier losging. Der Kowalski, der Scherbach und auch der kleine Leuthold, die jetzt dahinten, hinter Cabourg auffem selben Friedhof liegen, haben gar nix jemerkt, als's hier losging. Da drüben, bei Arromanches Engländer und in unserem Abschnitt jede Menge Kanadier. Ehe wir überhaupt die Hosenträger hoch hatten, waren die schon da und sagten: How are you?«