Die Blechtrommel (39 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Es fehlte dem Matzerath jede Einsicht. Ich weiß nicht, ob er mich erziehen wollte oder ob er schlicht nicht daran dachte, mich rechtzeitig und ausgiebig mit Trommeln zu versorgen. Alles trieb auf die Katastrophe zu; und nur der Umstand, daß gleichzeitig mit meinem drohenden Untergang auch im Kolonialwarengeschäft ein immer größeres Durcheinander kaum zu verbergen war, ließ mir und dem Geschäft — wie man in Notzeiten immer anzunehmen pflegt — rechtzeitig Hilfe zukommen.

Da Oskar nicht die erforderliche Größe hatte, auch nicht gewillt war, hinter dem Ladentisch zu stehen, Knäckebrot, Margarine und Kunsthonig zu verkaufen, nahm Matzerath, den ich der Einfachheit halber wieder meinen Vater nenne, Maria Truczinski, meines armen Freundes Herbert jüngste Schwester, ins Geschäft.

Sie hieß nicht nur Maria, sie war auch eine. Abgesehen davon, daß es ihr gelang, unsern Laden innerhalb weniger Wochen abermals in guten Ruf zu bringen, zeigte sie neben solch freundlich gestrenger Geschäftsführung — der sich Matzerath willig unterwarf — auch einigen Scharfsinn in der Beurteilung meiner Lage.

Noch bevor Maria ihren Platz hinter dem Ladentisch fand, hatte sie mir, der ich mit dem Schrotthaufen vor dem Bauch anklagend das Treppenhaus, die über hundert Stufen auf und nieder stampfte, mehrmals eine gebrauchte Waschschüssel als Ersatz angeboten. Aber Oskar wollte keinen Ersatz.

Standhaft weigerte er sich, auf der Kehrseite einer Waschschüssel zu trommeln. Kaum hatte jedoch Maria im Geschäft Fuß gefaßt, wußte sie gegen Matzeraths Willen durchzusetzen, daß meinen Wünschen Rechnung getragen wurde. Allerdings war Oskar nicht dazu zu bewegen, an ihrer Seite Spielzeughandlungen aufzusuchen. Das Innere solch bunt überfüllter Läden hätte mir gewiß schmerzliche Vergleiche mit dem zertretenen Laden des Sigismund Markus aufgezwungen. Maria, sanft und fügsam, ließ mich draußen warten oder tätigte die Einkäufe alleine, brachte mir, je nach Bedarf, alle vier bis fünf Wochen ein neues Blech und mußte während der letzten Kriegsjahre, da selbst die Blechtrommeln rar und bewirtschaftet wurden, den Händlern Zucker oder ein Sechzehntel Bohnenkaffee bieten, um mein Blech unter dem Ladentisch, als sogenannte UT-Ware gereicht zu bekommen. Das tat sie alles ohne Seufzen, Kopfschütteln und Augenaufschlagen, vielmehr unter aufmerksamstem Ernst und mit jener Selbstverständlichkeit, mit der sie mir frischgewaschene, ordentlich geflickte Hosen, Strümpfe und Kittel anzog. Wenn die Beziehungen zwischen Maria und mir während der folgenden Jahre auch ständigem Wechsel unterworfen waren, selbst heute noch nicht geklärt sind, die Art, wie sie mir die Trommel reicht, ist dieselbe geblieben, mag auch der Preis für Kinderblechtrommeln heute erheblich höher liegen als im Jahre neunzehnhundertvierzig.

Heute ist Maria Abonnentin eines Modejournals. Von Besuchstag zu Besuchstag trägt sie sich eleganter. Und damals?

War Maria schön? Sie zeigte ein rundes frischgewaschenes Gesicht, blickte kühl, doch nicht kalt aus etwas zu stark hervortretenden grauen, kurz, aber dicht bewimperten Augen, unter kräftigen dunklen, an der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen. Deutlich sich abzeichnende Backenknochen, deren Haut bei starkem Frostbläulich spannte und schmerzhaft sprang, gaben dem Gesicht eine beruhigend wirkende Flächenmäßigkeit, die durch die winzige, aber nicht unschöne oder gar komische, vielmehr bei aller Zierlichkeit wohldurchgebildete Nase kaum unterbrochen wurde. Ihre Stirn faßte sich rund, maß sich niedrig und wurde schon früh durch senkrechte Grübelfalten über der bewachsenen Nasenwurzel gezeichnet. Rund und leicht gekräuselt setzte auch jenes braune Haar, welches heute noch den Glanz nasser Baumstämme hat, an den Schläfen an, um dann straff den kleinen, griffigen, wie bei Mutter Truczinski kaum einen Hinterkopf aufweisenden Schädel zu bespannen. Als Maria sich die weiße Mantelschürze anzog und sich hinter den Ladentisch unseres Geschäftes stellte, trug sie noch Zöpfe hinter ihren rasch durchbluteten, derb gesunden Ohren, deren Läppchen leider nicht frei hingen, sondern direkt, zwar kein unschönes Fältchen ziehend, aber doch degeneriert genug in das Fleisch überm Unterkiefer wuchsen, um Schlüsse über Marias Charakter zuzulassen. Später schwatzte Matzerath dem Mädchen Dauerwellen auf: die Ohren blieben verborgen.

Heute stellt Maria unter modisch kurzgeschnittenem Wuschelkopf nur die angewachsenen Läppchen zur Schau; schützt aber die kleinen Schönheitsfehler durch große, ein wenig geschmacklose Klips.

Genau wie Marias mit einem Griff zu fassender Kopf volle Wangen, deutliche Backenknochen, großzügig geschnittene Augen beiderseits der eingebetteten, fast unauffälligen Nase zeigte, waren ihrem eher kleinen als mittelgroßen Körper etwas zu breite Schultern, schon unter dem Arm ansetzende volle Brüste und ein dem Becken entsprechendes, reiches Gesäß beigegeben, das hinwiederum von zu schlanken, dennoch kräftigen, unterhalb der Schamhaare Durchblick gewährenden Beinen getragen wurde.

Vielleicht war Maria damals eine Spur x-beinig. Auch wollten mir ihre immer geröteten Hände im Gegensatz zur ausgewachsenen und endgültig proportionierten Figur kindlich, die Finger wurstig vorkommen. Diese Patschhände hat sie bis heute nicht ganz verleugnen können. Ihre Füße jedoch, die sich damals in klobigen Wanderschuhen, etwas später in ihr kaum angemessenen, altmodisch eleganten Schühchen meiner armen Mama abmühten, haben trotz des ungesunden Schuhwerks aus zweiter Hand nach und nach die kindliche Röte und Drolligkeit verloren und sich modernen Schuhmodellen westdeutscher und sogar italienischer Herkunft angepaßt.

Maria sprach nicht viel, sang aber gerne beim Abwaschen des Geschirrs und gleichfalls beim Abfüllen des Zuckers in blaue Pfund-und Halbpfundtüten. Nach Geschäftsschluß, wenn Matzerath abrechnete, auch sonntags, und sobald sie sich ein halbes Stündchen Ruhe gönnte, griff Maria zu ihrer Mundharmonika, die ihr der Bruder Fritz geschenkt hatte, als er eingezogen wurde und nach Groß-

Boschpol kam.

Maria spielte ziemlich alles auf der Mundharmonika. Wanderlieder, die sie während der BdM— Heimabende gelernt hatte, Operettenmelodien und Schlager, die sie dem Radio und ihrem Bruder Fritz ablauschte, den Ostern vierzig eine Dienstreise für einige Tage nach Danzig brachte. Oskar erinnert sich, daß Maria »Regentropfen« mit Zungenschlag spielte und auch »Der Wind hat mir ein Lied erzählt« aus der Mundharmonika hervorlockte, ohne dabei Zarah Leander nachzuahmen. Niemals jedoch holte Maria ihre »Hohner« während der Geschäftszeit hervor. Selbst wenn keine Kundschaft kam, enthielt sie sich der Musik und schrieb, kindlich runde Buchstaben setzend, Preisschildchen und Warenlisten.

Wenn es sich auch nicht übersehen ließ, daß sie es war, die dem Geschäft vorstand, die einen Teil der Kundschaft, der sich nach dem Tode meiner armen Mama bei der Konkurrenz angemeldet hatte, zurückgewann und zu festen Kunden machte, behielt sie Matzerath gegenüber eine an Unterwürfigkeit grenzende Hochachtung bei, die jenen, der ja immer schon an sich geglaubt hatte, nicht einmal verlegen werden ließ.

»Schließlich habe ich das Mädchen ins Geschäft geholt und angelernt«, lautete sein Argument, wenn der Gemüsehändler Greff und Gretchen Sdieffler sticheln wollten. So einfach waren die Gedankengänge dieses Mannes, der eigentlich nur während seiner Lieblingsbeschäftigung, während des Kochens differenzierter, ja, sensibel und deshalb beachtenswert wurde. Denn das muß Oskar ihm lassen: seine Kassler Rippchen mit Sauerkraut, seine Schweinerneren in Senfsoße, seine panierten Wiener Schnitzel und, vor allen Dingen, sein Karpfen mit Sahne und Rettich ließen sich sehen, riechen und schmecken. Wenn er Maria im Geschäft auch nicht allzuviel beibringen konnte, weil erstens das Mädchen einen angeborenen Geschäftssinn für Handel mit kleinen Beträgen mitbrachte, weil zweitens Matzerath von den Finessen des Handels über den Ladentisch kaum etwas verstand und sich allenfalls für den Einkauf auf dem Großmarkt eignete, das Kochen, Braten und Dünsten jedoch brachte er Maria bei; denn wenn sie auch während zwei Jahren Dienstmädchen bei einer Beamtenfamilie in Schidlitz gewesen war, konnte sie, als sie bei uns anfing, nicht einmal Wasser zum Sieden bringen.

Bald durfte es Matzerath ähnlich wie zu Lebzeiten meiner armen Mama halten: er regierte in der Küche, steigerte sich von Sonntagsbraten zu Sonntagsbraten, konnte sich glücklich und zufrieden stundenlang beim Abwaschen des Geschirrs aufhalten, besorgte so nebenbei die während der Kriegsjahre immer schwieriger werdenden Einkäufe, Vorbestellungen und Abrechnungen bei den Firmen auf dem Großmarkt und beim Wirtschaftsamt, pflegte mit einiger Gerissenheit den Briefwechsel mit dem Steueramt, dekorierte nicht einmal ungeschickt, vielmehr Phantasie und Geschmack beweisend, alle vierzehn Tage das Schaufenster, erledigte verantwortungsbewußt seinen Parteikram und war, da ja Maria unerschütterlich hinter dem Ladentisch stand, voll und ganz beschäftigt.

Sie werden fragen: was sollen diese Vorbereitungen, dieses umständliche Eingehen auf die Beckenknochen, Augenbrauen, Ohrläppchen, Hände und Füße eines jungen Mädchens? Ganz auf Ihrer Seite stehend, verurteile ich mit Ihnen diese Art Menschenbeschreibung. Ist Oskar doch fest überzeugt, daß es ihm bisher allenfalls gelungen ist, Marias Bild zu verzerren, wenn nicht für alle Zeiten zu verzeichnen. Deshalb ein letzter und hoffentlich klärender Satz: Maria war, wenn ich von all den anonymen Krankenschwestern absehe, Oskars erste Liebe.

Es wurde mir dieser Zustand bewußt, als ich eines Tages, wie ich es selten tat, meinem Trommeln zuhörte und bemerken mußte, wie neu, wie eindringlich und dennoch behutsam Oskar dem Blech seine Leidenschaft mitteilte. Maria nahm dieses Trommeln gut auf. Dennoch liebte ich es nicht besonders, wenn sie zu ihrer Mundharmonika griff, über der Maultrommel häßlich die Stirn runzelte und meinte, mich begleiten zu müssen. Oftmals jedoch, beim Strümpfestopfen oder Zuckerabfüllen, ließ sie die Hände sinken, blickte mir ernst und aufmerksam mit ganz und gar ruhigem Gesicht zwischen die Trommelstöcke und fuhr mir, bevor sie wieder zum Stopfstrumpf griff, mit weicher, verschlafener Bewegung über die kurzgeschnittenen Stoppelhaare.

Oskar, der sonst keine noch so zärtlich gemeinte Berührung vertrug, duldete Marias Hand, verfiel diesem Streichern dergestalt, daß er oft stundenlang und schon bewußter die zum Streichern verführenden Rhythmen aufs Blech legte, bis endlich Marias Hand gehorchte und ihm gut tat.

Es kam dazu, daß mich Maria jeden Abend zu Bett brachte. Sie zog mich aus, wusch mich, half mir in den Schlafanzug, empfahl mir, vor dem Schlafengehen noch einmal die Blase zu entleeren, betete mit mir, obgleich sie protestantisch war, ein Vaterunser, drei Gegrüßetseistdumaria, auch dann und wann: Jesusdirlebichjesusdirsterbich, und deckte mich schließlich mit freundlichem, müde machendem Gesicht zu.

So schön diese letzten Minuten vor dem Lichtausknipsen auch waren — nach und nach tauschte ich Vaterunser und Jesusdirlebich zart anspielend in Meersternichdichgrüße und Mariazulieben um — die allabendlichen Vorbereitungen für die Nachtruhe waren mir peinlich, hätten fast meine Selbstbeherrschung untergraben und mir, der ich sonst jederzeit das Gesicht zu bewahren wußte, jenes verräterische Erröten der Backfische und verquälten jungen Männer befohlen. Oskar gibt zu: jedesmal wenn mich Maria mit ihren Händen entkleidete, in die Zinkwanne stellte und mir mit einem Waschlappen, mit Bürste und Seife den Staub eines Trommlertages von der Haut laugte und schrubbte, jedesmal also, wenn mir bewußt wurde, daß ich, ein fast Sechzehnjähriger, einem bald siebzehn Jahre alten Mädchen nackt und überdeutlich gegenüber stand, errötete ich heftig und anhaltend nachglühend.

Doch Maria schien den Farbwechsel meiner Haut nicht zu bemerken. Dachte sie etwa, Waschläppchen und Bürste erhitzten mich so? Sagte sie sich, es wird die Hygiene sein, die Oskar so einheizt? Oder war Maria schamhaft und taktvoll genug, diese meine alltägliche Abendröte zu durchschauen und dennoch zu übersehen?

Bis heute bin ich diesem jähen und durch nichts zu verbergenden, oft fünf Minuten und länger anhaltenden Anstrich verfallen. Ähnlich meinem Großvater, dem Brandstifter Koljaiczek, der feuerzündgockelrot wurde, wenn nur das Wörtchen Streichholz fiel, schießt mir das Blut durch die Adern, sobald jemand, den ich gar nicht zu kennen brauche, in meiner Nähe etwas von kleinen Kindern erzählt, die jeden Abend in der Badewanne mit Waschläppchen und Bürste behandelt werden.

Wie ein Indianer steht Oskar dann da; schon lächelt die Umwelt, heißt mich absonderlich, sogar abwegig: denn was kann es meiner Umwelt bedeuten, wenn kleine Kinderchen eingeseift, abgeschrubbt und von einem Waschläppchen an den verschwiegensten Orten besucht werden.

Maria jedoch, das Naturkind, erlaubte sich in meiner Anwesenheit, ohne verlegen zu werden, die gewagtesten Dinge. So zog sie sich jedesmal, bevor sie die Dielen des Wohnzimmers und Schlafzimmers wischte, vom Oberschenkel abwärts jene Strümpfe aus, die ihr Matzerath geschenkt hatte, die sie schonen wollte. Eines Sonnabends nach Geschäftsschluß — Matzerath hatte in der Ortsgruppendienststelle zu tun, wir waren alleine — ließ Maria Rock und Bluse fallen, stand in armseligem, aber sauberem Unterrock neben mir am Wohnzimmertisch und begann, mit Benzin einige Flecken aus dem Rock und der kunstseidenen Bluse zu reiben.

Wie kam es wohl, daß Maria, sobald sie die Oberkleider ablegte, sobald sich der Benzingeruch verflüchtigte, angenehm und naiv betörend nach Vanille roch? Rieb sie sich mit solch einer Wurzel ein? Gab es ein billiges Parfüm, das diese Geruchsrichtung vertrat? Oder war dieser Duft ihr so zu eigen, wie etwa eine Frau Kater Salmiakgeist ausdünstete, wie etwa meine Großmutter Koljaiczek leichtranzige Butter unter ihren Röcken riechen ließ? Oskar, der allen Dingen auf den Grund gehen mußte, ging auch der Vanille nach: Maria rieb sich nicht ein. Maria roch so. Ja, ich bin heute noch überzeugt, daß sie sich dieses ihr anhaftenden Duftes gar nicht bewußt war; denn wenn bei uns am Sonntag nach Kalbsbraten mit Stampfkartoffeln und Blumenkohl in brauner Butter ein Vanillepudding auf dem Tisch zitterte, weil ich mit dem Stiefel gegen ein Tischbein stieß, aß Maria, die für Rote Grütze schwärmte, davon nur wenig und mit Widerwillen, während Oskar bis zum heutigen Tage in diesen einfachsten und vielleicht banalsten aller Puddinge verliebt ist.Im Juli vierzig, kurz nachdem Sondermeldungen den hastig erfolgreichen Verlauf des Frankreichfeldzuges gemeldet hatten, begann die Badesaison an der Ostsee. Während Marias Bruder Fritz als Obergefreiter die ersten Ansichtspostkarten aus Paris schickte, beschlossen Matzerath und Maria, Oskar müsse an die See, die Seeluft könne seiner Gesundheit nur guttun. Maria solle mit mir während der Mittagspause — das Geschäft blieb von ein Uhr bis drei Uhr geschlossen — an den Brösener Strand, und wenn sie bis vier bliebe, sagte Matzerath, schade das auch nichts, er stehe dann und wann ganz gerne hinter dem Ladentisch und präsentiere sich der Kundschaft.

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