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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (85 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Das gefiel den alten Leutchen. Da waren sie ganz dabei. Da litten sie, weil die Milchzähne durchbrachen. Zweitausend Hochbetagte husteten schlimm, weil ich den Keuchhusten ausbrechen ließ.

Wie sie sich kratzten, weil ich ihnen die langen wollenen Strümpfe anzog. Manch alte Dame, manch alter Herr näßte Unterwäsche und Sitzpolster, weil ich die Kinderchen von einer Feuersbrunst räumen ließ. Ich weiß nicht mehr, war es in Wuppertal, war es in Bochum, nein, in Recklinghausen war es: ich spielte vor alten Bergleuten, die Gewerkschaft unterstützte die Veranstaltung, und ich dachte mir, die alten Kumpels werden, da sie jahrelang mit schwarzer Kohle zu tun gehabt haben, einen kleinen schwarzen Schreck vertragen. Oskar trommelte also »Die Schwarze Köchin« und mußte erleben, daß tausendfünfhundert Kumpels, die da schlagende Wetter, absaufende Stollen, Streik, Arbeitslosigkeit hinter sich hatten, der bösen Schwarzen Köchin wegen ein fürchterlich Geschrei losließen, dem — und deswegen erwähne ich die Geschichte — hinter dicken Vorhängen mehrere Fensterscheiben der Festhalle zum Opfer fielen. So, über diesen Umweg, fand ich wieder meine glastötende Stimme, machte aber sparsamen Gebrauch davon, weil ich mir nicht das Geschäft verderben wollte.

Denn meine Tournee war ein Geschäft. Als ich zurückkehrte und mit Dr. Dösch abrechnete, stellte es sich heraus, daß meine Blechtrommel eine Goldgrube war.

Ohne nach dem Meister Bebra gefragt gehabt zu haben — ich hatte die Hoffnung, ihn wiederzusehen, schon aufgegeben — verkündete mir Dr. Dösch, daß Bebra mich erwarte.

Mein zweiter Besuch beim Meister verlief etwas anders als der erste. Oskar mußte nicht vor dem Stahlmöbel stehen, sondern fand einen für seine Maße konstruierten, elektrisch betriebenen, schwenkbaren Rollstuhl vor, der dem Stuhl des Meisters gegenüber stand. Lange saßen wir, schwiegen, hörten uns Pressemeldungen und -berichte über Oskars Trommelkunst an, die Dr. Dösch auf Bändern aufgenommen hatte und nun vor uns ablaufen ließ. Bebra schien zufrieden zu sein. Mir war das Gerede der Zeitungsleute eher peinlich. Die trieben einen Kult mit mir, sprachen mir und meiner Trommel Heilerfolge zu. Gedächtnisschwund könne sie beseitigen, hieß es, das Wörtchen »Oskarnismus« tauchte zum erstenmal auf und sollte bald zum Schlagwort werden.

Hinterher servierte das Pullovermädchen einen Tee für mich. Dem Meister legte sie zwei Pillen auf die Zunge. Wir plauderten. Er klagte mich nicht mehr an. Wie vor Jahren war es, als wir im Cafe Vierjahreszeiten saßen, nur fehlte die Signora, unsere Roswitha. Als ich bemerken mußte, daß der Meister Bebra während meiner etwas langatmigen Schilderungen Oskarscher Vergangenheit eingeschlafen war, spielte ich erst noch ein Viertelstündchen mit meinem elektrischen Rollstuhl, ließ den schnurren und übers Parkett sausen, schwenkte ihn links, rechts herum, ließ ihn wachsen und schrumpfen und hatte Mühe, mich von jenem Allerweltsmöbel trennen zu können, das sich mit seinen unendlichen Möglichkeiten als harmloses Laster anbot.

Meine zweite Tournee fiel in die Adventszeit. Dementsprechend gestaltete ich auch mein Programm und bekam die Loblieder der katholischen wie protestantischen Zeitungen zu hören. Gelang es mir doch, uralte, steinhart gesottene Sünder zu dünn und rührend Adventslieder singenden Kleinkindern zu machen. »Jesus, dir leb' ich, Jesus, dir sterb' ich«, sangen zweitausendfünfhundert Menschen, denen man bei so hohem Alter solch kindlichen Glaubenseifer nicht mehr zugetraut hätte.

Zweckentsprechend gab ich mich während der dritten Tournee, die parallel zur Karnevalszeit verlief.

Bei keinem sogenannten Kinderkarneval hätte es lustiger und unbeschwerter zugehen können, als anläßlich meiner Veranstaltungen, die jede zittrige Oma, jeden wackligen Opa in eine drollig naive Räuberbraut, in einen peng-peng-machenden Räuberhauptmann verwandelte.

Nach dem Karneval unterzeichnete ich die Verträge mit der Schallplattenfirma. Die Aufnahme machte ich in schalldichten Studios, hatte zuerst Schwierigkeiten wegen der äußerst sterilen Atmosphäre, ließ mir dann Riesenfotos alter Leutchen, wie man sie in Altersheimen und auf Parkbänken findet, an die Studiowände hängen und trommelte ähnlich wirksam wie während der Veranstaltungen in menschenwarmen Festsälen.

Die Platten gingen weg wie die warmen Semmeln: und Oskar wurde reich. Gab ich deswegen mein armseliges, ehemaliges Badezimmer in der Zeidlerschen Wohnung auf? Ich gab es nicht auf.

Weswegen nicht? Meines Freundes Klepp wegen, auch wegen der leeren Kammer hinter der Milchglastür, in der einst Schwester Dorothea geatmet hatte, gab ich mein Zimmer nicht auf. Was tat Oskar mit dem vielen Geld? Er machte Maria, seiner Maria, ein Angebot.

Ich sagte zu Maria: wenn du dem Stenzel den Laufpaß gibst, ihn nicht nur nicht heiratest, sondern simpel davonjagst, kaufe ich dir ein modern eingerichtetes Feinkostgeschäft in bester Geschäftslage, denn schließlich bist du, liebe Maria, fürs Geschäft und nicht für einen hergelaufenen Herrn Stenzel geboren.

Ich hatte mich in Maria nicht getäuscht. Sie ließ vom Stenzel ab, baute mit meinen Geldmitteln ein erstklassiges Feinkostgeschäft in der Friedrichstraße auf, und vor einer Woche konnte man in Oberkassel — wie mir Maria gestern freudig und nicht ohne Dankbarkeit berichtete — eine Filiale jenes Geschäftes eröffnen, das vor drei Jahren gegründet wurde.

Kam ich von meiner siebenten oder achten Tournee zurück? Im heißesten Monat Juli war es. Am Hauptbahnhof winkte ich mir ein Taxi und fuhr direkt zum Bürohochhaus. Wie am Hauptbahnhof warteten auch vor dem Hochhaus die lästigen Autogrammjäger — Pensionäre und Großmütter, die besser ihren Enkelkindern aufgepaßt hätten. Ich ließ mich sofort beim Chef anmelden, fand auch geöffnete Flügeltüren, den Teppich in Richtung Stahlmöbel; doch hinter dem Tisch saß nicht der Meister, kein Rollstuhl erwartete mich, sondern das Lächeln des Dr. Dösch.

Bebra war tot. Seit Wochen schon gab es keinen Meister Bebra mehr. Auf Bebras Wunsch hin hatte man mich nicht über seinen schlimmen Zustand unterrichtet. Nichts, auch sein Tod nicht, durfte meine Tournee unterbrechen. Bei der bald darauf folgenden Testamenteröffnung erbte ich ein rundes Vermögen und das Brustbild der Roswitha, erlitt jedoch empfindliche finanzielle Verluste, weil ich zwei schon vertraglich festgelegte Tourneen nach Süddeutschland und in die Schweiz kurzfristig absagte und wegen Vertragsbruch belangt wurde.

Abgesehen von den paar tausend Mark traf mich Bebras Tod schwer und auf längere Zeit. Meine Blechtrommel schloß ich ein und war kaum noch aus dem Zimmer zu bekommen. Dazu kam, daß mein Freund Klepp in jenen Wochen heiratete, ein rothaariges Zigarettenmädchen zu seiner Gattin machte, weil er ihm einmal ein Foto von sich geschenkt hatte. Kurz vor der Hochzeit, zu der ich nicht geladen wurde, kündigte er sein Zimmer, verzog nach Stockum, und Oskar blieb Zeidlers einziger Untermieter.

Mein Verhältnis zu dem Igel hatte sich etwas geändert. Nachdem fast jede Zeitung meinen Namen in Schlagzeilen nachdruckte, behandelte er mich mit Hochachtung, gab mir auch, gegen ein entsprechendes Stückchen Geld, den Schlüssel zur leeren Kammer der Schwester Dorothea; später mietete ich das Zimmer, damit er es nicht vermieten konnte.

Meine Trauer hatte also ihren Weg. Beide Zimmertüren öffnete ich, wanderte von der Badewanne meines Raumes über den Kokosläufer des Korridors in die Kammer der Dorothea, starrte dort in den leeren Kleiderschrank, ließ mich von dem Spiegel über der Kommode verhöhnen, verzweifelte vor dem schweren unbezogenen Bett, rettete mich in den Korridor, floh vor der Kokosfaser in mein Zimmer und hielt es auch dort nicht aus.

Womöglich mit einsamen Menschen als Kunden rechnend, hatte ein geschäftstüchtiger Ostpreuße, der in Rasuren ein Gut verloren hatte, in der Nähe der Jülicher Straße ein Geschäft eröffnet, das schlicht und bezeichnend »Hundeleihanstalt« hieß.

Dort lieh ich mir Lux, einen kräftigen, etwas zu fetten, schwarzglänzenden Rottweiler. Mit ihm ging ich spazieren, damit ich nicht in Zeidlers Wohnung zwischen meiner Badewanne und dem leeren Kleiderschrank der Schwester Dorothea hin und her hetzen mußte.

Der Hund Lux führte mich oft an den Rhein. Dort bellte er die Schiffe an. Der Hund Lux führte mich oft nach Rath, in den Grafenberger Wald. Dort bellte er die Liebespaare an. Ende Juli einundfünfzig führte mich der Hund Lux nach Gerresheim, einem Vorort der Stadt Düsseldorf, der seine ländlich dörfliche Herkunft nur notdürftig, mit Hilfe einiger Industrie, einer größeren Glashütte verleugnete.

Gleich hinter Gerresheim gab es Schrebergärten, und zwischen, neben, hinter den Schrebergärten zäunte sich Weideland ein, wogten Kornfelder, ich glaube, Roggenfelder.

Sagte ich schon, daß es ein heißer Tag war, an dem mich der Hund Lux nach Gerresheim und aus Gerresheim hinaus zwischen Kornfelder und Schrebergärten führte? Erst als wir die letzten Häuser des Vorortes hinter uns hatten, ließ ich Lux von der Leine. Er blieb dennoch bei Fuß, war ein treuer Hund, ein besonders treuer Hund, da er ja als Hund einer Hundeleihanstalt vielen Herren treu sein mußte;Mit anderen Worten, der Rottweiler Lux gehorchte mir, war alles andere als ein Dackel. Ich fand diesen Hundegehorsam übertrieben, hätte ihn lieber springen sehen, trat ihn auch, damit er sprang; er aber streunte mit schlechtem Gewissen, bog immer wieder den glatt-schwarzen Hals und hielt mir die sprichwörtlich treuen Hundeaugen hin.

»Hau ab, Lux!« forderte ich. »Hau ab!«

Lux gehorchte mehrmals, doch so kurzfristig, daß es mir angenehm auffallen mußte, als er längere Zeit weg blieb, im Korn verschwand, das hier als Roggen windgerecht wogte, ach was, windgerecht — windstill war es und gewitterig.

Lux wird einem Kaninchen hinterher sein, dachte ich. Vielleicht hat er aber auch nur das Bedürfnis, alleine zu sein, Hund sein zu dürfen, wie Oskar ohne den Hund einige Zeit lang Mensch sein möchte.

Keine Aufmerksamkeit schenkte ich der Umgebung. Weder die Schrebergärten noch Gerresheim und die dahinterliegende, im Dunst flächige Stadt lockten mein Auge. Ich setzte mich auf eine leere, verrostete Kabelrolle, die ich nun doch Kabeltrommel nennen muß, denn kaum saß Oskar auf dem Rost, da begann er schon mit den Knöcheln auf der Kabeltrommel zu trommeln. Warm war es. Mein Anzug drückte, war nicht sommerlich leicht genug. Lux war weg, blieb weg. Die Kabeltrommel ersetzte gewiß nicht meine Blechtrommel, aber immerhin: langsam glitt ich zurück, griff mir, als es nicht weitergehen wollte, als sich immer wieder die Bilder der letzten Jahre voller Krankenhausmilieu wiederholten, zwei dürre Knüppel, sagte mir: Nun warte mal, Oskar. Nun wolln wir doch mal sehen, was du bist, wo du herkommst. Und da leuchteten sie auch schon, die beiden Sechzig-Watt-Glühbirnen meiner Geburtsstunde. Der Nachtfalter schnatterte dazwischen, fern rückte ein Gewitter an schweren Möbeln, Matzerath hörte ich sprechen, gleich darauf Mama. Er verhieß mir das Geschäft, Mama versprach mir Spielzeug, mit drei Jahren sollte ich die Blechtrommel bekommen, und so versuchte Oskar, die drei Jährchen so schnell wie möglich hinter sich zu bringen: ich aß, trank, gab von mir, nahm zu, ließ mich wiegen, wickeln, baden, bürsten, pudern, impfen, bewundern, beim Namen nennen, lächelte auf Wunsch, jauchzte nach Verlangen, schlief ein, wenn es an der Zeit war, erwachte pünktlich und machte im Schlaf jenes Gesicht, das die Erwachsenen Engelsgesichtchen nannten. Mehrmals hatte ich den Durchfall, war oft erkältet, holte mir den Keuchhusten, hielt ihn mir einige Zeit lang und gab ihn erst auf, als ich seinen schwierigen Rhythmus kapiert hatte, für immer im Handgelenk hatte; denn wie wir wissen, gehörte das Stückchen »Keuchhusten« zu meinem Repertoire, und wenn Oskar vor zweitausend Menschen Keuchhusten trommelte, husteten zweitausend alte Männlein und Weiblein.

Lux winselte vor mir, rieb sich an meinen Knien. Dieser Hund aus der Hundeleihanstalt, den auszuleihen mir meine Einsamkeit befohlen hatte! Da stand er auf vier Beinen, wedelte, war ein Hund, hatte diesen Blick und hielt etwas in der geifernden Schnauze: einen Stock, Stein, was sonst immer einem Hund wertvoll sein mag.

Langsam entglitt mir meine so wichtige Frühzeit. Der Schmerz am Gaumen, der mir die ersten Milchzähne versprochen hatte, ließ nach, müde lehnte ich mich zurück: ein erwachsener, sorgfältig, etwas zu warm gekleideter Buckliger, mit Armbanduhr, Kennkarte, einem Bündel Geldscheinen in der Brieftasche. Schon hatte ich eine Zigarette zwischen den Lippen, Streichholz davor und überließ es dem Tabak, jenen eindeutigen Kindheitsgeschmack in meiner Mundhöhle abzulösen.

Und Lux? Lux rieb sich an mir. Ich stieß ihn weg, blies ihn mit Zigarettenrauch an. Das mochte er nicht, blieb aber dennoch und rieb sich an mir. Sein Blick leckte mich ab. Ich suchte die nahen Leitungsdrähte zwischen Telegrafenmasten nach Schwalben ab, wollte Schwalben als Mittel gegen aufdringliche Hunde benutzen. Es gab aber keine Schwalben, und Lux ließ sich nicht vertreiben. Seine Schnauze fand zwischen meine Hosenbeine, stieß die Stelle so sicher, als hätte der Hundeverleiher aus Ostpreußen ihn darauf dressiert. Mein Schuhabsatz traf ihn zweimal. Er nahm Abstand, stand zitternd, vierbeinig da und hielt mir dennoch die Schnauze mit Stock oder Stein so unbeirrbar hin, als hielte er nicht Stock und Stein, sondern meine Brieftasche, die ich in der Jacke spürte, oder die Uhr, die mir deutlich am Handgelenk tickte. Was hielt er denn also? Was war so wichtig, so zeigenswert? Schon griff ich ihm zwischen das warme Gebiß, hielt es auch gleich in der Hand, erkannte, was ich hielt, und tat dennoch, als suchte ich nach einem Wort, das jenen Fund hätte bezeichnen können, welchen mir Lux aus dem Roggenfeld brachte.

Es gibt Teile des menschlichen Körpers, die sich abgelöst, dem Zentrum entfremdet, leichter und genauer betrachten lassen. Es war ein Finger. Ein weiblicher Finger. Ein Ringfinger. Ein weiblicher Ringfinger. Ein geschmackvoll beringter weiblicher Finger. Zwischen dem Mittelhandknochen und dem ersten Fingerglied, etwa zwei Zentimeter unterhalb des Ringes, hatte sich der Finger abhacken lassen. Ein sauberes und deutlich ablesbares Segment bewahrte die Flechse des Fingerstreckers.

Es war ein schöner, beweglicher Finger. Den Edelstein des Ringes, den sechs goldene Krallen hielten, nannte ich sogleich und, wie sich später herausstellen sollte, treffend einen Aquamarin. Der Ring selbst erwies sich an einer Stelle als so dünn, bis zur Zerbrechlichkeit abgetragen, daß ich ihn als Erbstück wertete. Obgleich Dreck oder, besser gesagt, Erde unter dem Fingernagel einen Rand zeichnete, als hätte der Finger Erde kratzen oder graben müssen, erweckten Schnitt und Nagelbett des Fingernagels einen gepflegten Eindruck. Sonst fühlte sich der Finger, nachdem ich ihn dem Hund aus der lebenswarmen Schnauze genommen hatte, kalt an; auch gab die ihm eigene, gelbliche Blässe der Kälte recht.

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