Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (17 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Wir begegneten einander in der Menagerie. Mama und ihre beiden Herren ließen sich vor dem Affenkäfig beleidigen. Hedwig Bronski, die ausnahmsweise mit von der Partie war, zeigte ihren Kindern die Ponys. Nachdem mich ein Löwe angegähnt hatte, ließ ich mich leichtsinnigerweise mit einer Eule ein. Ich versuchte den Vogel zu fixieren, doch der fixierte mich: und Oskar schlich betroffen, mit heißen Ohren, im Zentrum verletzt davon, verkrümelte sich zwischen den blauweißen Wohnwagen, weil es dort außer einigen angebundenen Zwergziegen keine Tiere gab.

Er ging in Hosenträgern und Pantoffeln an mir vorbei und trug einen Wassereimer. Flüchtig nur kreuzten sich die Blicke. Dennoch erkannten wir uns sofort. Er stellte den Eimer ab, legte den großen Kopf schief, kam auf mich zu, und ich taxierte, daß er etwa neun Zentimeter größer war als ich.

»Schau, schau!« knarrte es neidisch zu mir herunter. »Heutzutage wollen die Dreijährigen schon nicht mehr wachsen.« Da ich nicht antwortete, kam er mir nochmals: »Bebra, mein Name, stamme in direkter Linie vom Prinzen Eugen ab, dessen Vater der vierzehnte Ludwig war und nicht irgendein Savoyarde, wie man behauptet.« Da ich immer noch schwieg, nahm er neuen Anlauf: »Unterbrach an meinem zehnten Geburtstag das Wachstum. Etwas spät, aber immerhin!«

Da er so offen sprach, stellte ich mich meinerseits vor, flunkerte aber keinen Stammbaum zusammen, nannte mich schlicht Oskar. »Sagen Sie, bester Oskar, Sie dürfen jetzt vierzehn, fünfzehn oder gar schon sechzehn Jährchen zählen. Nicht möglich, was Sie sagen, erst neuneinhalb?«

Jetzt sollte ich ihn schätzen und tippte vorsätzlich zu niedrig.

»Sie sind ein Schmeichler, junger Freund. Fünfunddreißig, das war einmal. Im August feiere ich mein Dreiundfünfzigstes, ich könnte Ihr Großvater sein!«Oskar sagte ihm einige nette Dinge über seine akrobatischen Leistungen als Clown, nannte ihn hochmusikalisch und führte, leicht vom Ehrgeiz gepackt, ein Kunststückchen vor. Drei Glühbirnen der Zirkusplatzbeleuchtung mußten dran glauben, und Herr Bebra rief bravo, bravissimo und wollte Oskar sofort engagieren.

Manchmal tut es mir heute noch leid, daß ich ablehnte. Ich redete mich heraus und sagte: »Wissen Sie, Herr Bebra, ich rechne mich lieber zu den Zuschauern, laß meine kleine Kunst im verborgenen, abseits von allem Beifall blühen, bin jedoch der letzte, der Ihren Darbietungen keinen Applaus spendet.« Herr Bebra hob seinen zerknitterten Zeigefinger und ermahnte mich: »Bester Oskar, glauben Sie einem erfahrenen Kollegen. Unsereins darf nie zu den Zuschauern gehören. Unsereins muß auf die Bühne, in die Arena. Unsereins muß vorspielen und die Handlung bestimmen, sonst wird unsereins von jenen da behandelt. Und jene da spielen uns all zu gerne übel mit!«

Mir fast ins Ohr kriechend, flüsterte er und machte uralte Augen: »Sie kommen! Sie werden die Festplätze besetzen! Sie werden Fackelzüge veranstalten! Sie werden Tribünen bauen, Tribünen bevölkern und von Tribünen herunter unseren Untergang predigen. Geben Sie acht, junger Freund, was sich auf den Tribünen ereignen wird! Versuchen Sie, immer auf der Tribüne zu sitzen und niemals vor der Tribüne zu stehen!«

Dann griff Herr Bebra, da mein Name gerufen wurde, seinen Eimer. »Man sucht Sie, bester Freund.

Wir werden uns wiedersehen. Wir sind zu klein, als daß wir uns verlieren könnten. Zudem sagt Bebra immer wieder: Kleine Leute wie wir finden selbst auf überfülltesten Tribünen noch ein Plätzchen. Und wenn nicht auf der Tribüne, dann unter der Tribüne, aber niemals vor der Tribüne. Das sagt Bebra, der in direkter Linie vom Prinzen Eugen abstammt.«

Mama, die Oskar rufend hinter einem Wohnwagen hervortrat, sah gerade noch, wie mich Herr Bebra auf die Stirn küßte, dann seinen Wassereimer ergriff und mit den Schultern rudernd auf einen Wohnwagen zusteuerte.

»Stellt euch nur vor«, empörte sich Mama später Matzerath und den Bronskis gegenüber, »bei den Liliputanern war er. Und ein Gnom hat ihn auf die Stirn geküßt. Hoffentlich hat das nichts zu bedeuten!«

Bebras Stirnkuß sollte mir noch viel bedeuten. Die politischen Ereignisse der nächsten Jahre gaben ihm recht: die Zeit der Fackelzüge und Aufmärsche vor Tribünen begann.

Wie ich den Ratschlägen des Herrn Bebra Folge leistete, beherzigte Mama einen Teil der Ermahnungen, die ihr Sigismund Markus in der Zeughauspassage gegeben hatte und anläßlich der Donnerstagbesuche immer wieder hören ließ. Wenn sie auch nicht mit dem Markus nach London ging — ich hätte nicht viel gegen den Umzug einzuwenden gehabt —, blieb sie dennoch bei Matzerath und sah Jan Bronski maßvoll gelegentlich, das heißt, in der Tischlergasse auf Jans Kosten und beim Familienskat, der Jan immer teurer wurde, weil er ständig verlor. Matzerath aber, auf den Mama gesetzt hatte, auf dem sie, des Markus Rat befolgend, ihren Einsatz, ohne ihn zu verdoppeln, liegen ließ, trat im Jahre vierunddreißig, also verhältnismäßig früh die Kräfte der Ordnung erkennend, in die Partei ein und brachte es dennoch nur bis zum Zellenleiter. Anläßlich dieser Beförderung, die wie alles Außergewöhnliche Grund zum Familienskat bot, gab Matzerath erstmals seinen Ermahnungen, die er Jan Bronski wegen der Beamtentätigkeit auf der polnischen Post schon immer erteilt hatte, einen etwas strengeren, doch auch besorgteren Ton.

Sonst änderte sich nicht viel. Über dem Piano wurde das Bild des finsteren Beethoven, ein Geschenk Greffs, vom Nagel genommen und am selben Nagel der ähnlich finster blickende Hitler zur Ansicht gebracht. Matzerath, der für ernste Musik nichts übrig hatte, wollte den fast tauben Musiker ganz und gar verbannen. Mama jedoch, die die langsamen Sätze der Beethovensonaten sehr liebte, zwei oder drei noch langsamer als angegeben auf unserem Klavier eingeübt hatte und dann und wann dahintropfen ließ, bestand darauf, daß der Beethoven, wenn nicht über die Chaiselongue, dann übers Büfett käme. So kam es zu jener finstersten aller Konfrontationen: Hitler und das Genie hingen sich gegenüber, blickten sich an, durchschauten sich und konnten dennoch aneinander nicht froh werden.

Nach und nach kaufte sich Matzerath die Uniform zusammen. Wenn ich mich recht erinnere, begann er mit der Parteimütze, die er gerne, auch bei sonnigem Wetter mit unterm Kinn scheuerndem Sturmriemen trug. Eine Zeitlang zog er weiße Oberhemden mit schwarzer Krawatte zu dieser Mütze an oder eine Windjacke mit Armbinde. Als er das erste braune Hemd kaufte, wollte er eine Woche später auch die kackbraunen Reithosen und Stiefel erstehen. Mama war dagegen, und es dauerte abermals Wochen, bis Matzerath endgültig in Kluft war.

Es ergab sich mehrmals in der Woche Gelegenheit, diese Uniform zu tragen, aber Matzerath ließ es mit der Teilnahme an sonntäglichen Kundgebungen auf der Maiwiese neben der Sporthalle genug sein. Hier erwies er sich jedoch selbst dem schlechtesten Wetter gegenüber unerbittlich, lehnte auch ab, einen Regenschirm zur Uniform zu tragen, und wir hörten oft genug eine Redewendung, die bald zur stehenden Redensart wurde. »Dienst ist Dienst«, sagte Matzerath, »und Schnaps ist Schnaps!« verließ, nachdem er den Mittagsbraten vorbereitet hatte, jeden Sonntagmorgen Mama und brachte mich in eine peinliche Situation, weil Jan Bronski, der ja den Sinn für die neue sonntägliche politische Lage besaß, auf seine zivil eindeutige Art meine verlassene Mama besuchte, während Matzerath in Reih und Glied stand.

Was hätte ich anderes tun können, als mich verdrücken. Es lag weder in meiner Absicht, die beiden auf der Chaiselongue zu stören,noch zu beobachten. So trommelte ich mich, sobald mein uniformierter Vater außer Sicht war und die Ankunft des Zivilisten, den ich damals schon meinen mutmaßlichen Vater nannte, bevorstand, aus dem Haus in Richtung Maiwiese.

Sie werden sagen, mußte es unbedingt die Maiwiese sein? Glauben Sie mir bitte, daß an Sonntagen im Hafen nichts los war, daß ich mich zu Waldspaziergängen nicht entschließen konnte, daß mir das Innere der Herz-Jesu-Kirche damals noch nichts sagte. Zwar gab es noch die Pfadfinder des Herrn Greff, aber jener verklemmten Erotik zog ich, es sei hier zugegeben, den Rummel auf der Maiwiese vor; auch wenn Sie mich jetzt einen Mitläufer heißen.

Es sprachen entweder Greiser oder der Gauschulungsleiter Löbsack. Der Greiser fiel mir nie besonders auf. Er war zu gemäßigt und wurde später durch den forscheren Mann aus Bayern, der Forster hieß und Gauleiter wurde, ersetzt. Der Löbsack jedoch wäre der Mann gewesen, einen Forster zu ersetzen.

Ja hätte der Löbsack nicht einen Buckel gehabt, wäre es für den Mann aus Fürth schwer gewesen, in der Hafenstadt ein Bein aufs Pflaster zu bekommen. Den Löbsack richtig einschätzend, in seinem Buckel ein Zeichen hoher Intelligenz sehend, machte ihn die Partei zum Gauschulungsleiter. Der Mann verstand sein Handwerk. Während der Forster mit übler bayrischer Aussprache immer wieder »Heim ins Reich« schrie, ging Löbsack mehr ins Detail, sprach alle Sorten Danziger Platt, erzählte Witze von Bollermann und Wullsutzki, verstand es, die Hafenarbeiter bei Schichau, das Volk in Ohra, die Bürger von Emmaus, Schidlitz, Bürgerwiesen und Praust anzusprechen. Hatte er es mit bierernsten Kommunisten und den lahmen Zwischenrufen einiger Sozis zu tun, war es eine Wonne, dem kleinen Mann, dessen Buckel durch das Uniformbraun besonders betont und gehoben wurde, zuzuhören.

Löbsack hatte Witz, zog all seinen Witz aus dem Buckel, nannte seinen Buckel beim Namen, denn so etwas gefällt den Leuten immer. Eher werde er seinen Buckel verlieren, behauptete Löbsack, als daß die Kommune hochkomme. Es war vorauszusehen, daß er den Buckel nicht verlor, daß an dem Buckel nicht zu rütteln war, folglich behielt der Buckel recht, mit ihm die Partei — woraus man schließen kann, daß ein Buckel die ideale Grundlage einer Idee bildet.

Wenn Greiser, Löbsack oder später Forster sprachen, sprachen sie von der Tribüne aus. Es handelte sich um jene Tribüne, die mir der kleine Herr Bebra angepriesen hatte. Deshalb hielt ich längere Zeit den Tribünenredner Löbsack, bucklig und begabt, wie ersieh auf der Tribüne zeigte, für einen Abgesandten Bebras, der in brauner Verkleidung seine und im Grunde auch meine Sache auf der Tribüne verfocht.

Was ist das, eine Tribüne? Ganz gleich für wen und vor wem eine Tribüne errichtet wird, in jedem Falle muß sie symmetrisch sein. So war auch die Tribüne auf unserer Maiwiese neben der Sporthalle eine betont symmetrisch angeordnete Tribüne. Von oben nach unten: sechs Hakenkreuzbanner nebeneinander. Dann Fahnen, Wimpel und Standarten. Dann eine Reihe schwarze SS mit Sturmriemen unterm Kinn. Dann zwei Reihen SA, die während der Singerei und Rederei die Hände am Koppelschloß hielten. Dann sitzend mehrere Reihen uniformierte Parteigenossen, hinter dem Rednerpult gleichfalls Pg's, Frauenschaftsführerinnen mit Müttergesichtern, Vertreter des Senates in Zivil, Gäste aus dem Reich und der Polizeipräsident oder sein Stellvertreter.

Den Sockel der Tribüne verjüngte die Hitlerjugend oder, genauer gesagt, der Gebietsfanfarenzug des Jungvolkes und der Gebietsspielmannszug der HJ. Bei manchen Kundgebungen durfte auch ein links und rechts, immer wieder symmetrisch angeordneter gemischter Chor entweder Sprüche hersagen oder den so beliebten Ostwind besingen, der sich, laut Text, besser als alle anderen Winde fürs Entfalten von Fahnenstoffen eignete.

Bebra, der mich auf die Stirn küßte, sagte auch: »Oskar, stelle dich niemals vor eine Tribüne.

Unsereins gehört auf die Tribüne!«

Zumeist gelang es mir, zwischen irgendwelchen Frauenschaftsführerinnen Platz zu finden. Leider unterließen es diese Damen nicht, mich während der Kundgebung aus Propagandazwecken zu Streichern. Zwischen die Pauken, Fanfaren und Trommeln am Tribünenfuß konnte ich mich meiner Blechtrommel wegen nicht mischen; denn die lehnte die Landsknechtpaukerei ab. Leider ging auch ein Versuch mit dem Gauschulungsleiter Löbsack schief. Ich täuschte mich schwer in dem Mann.

Weder war er, wie ich gehofft hatte, ein Abgesandter Bebras, noch hatte er, trotz seines vielversprechenden Buckels, das geringste Verständnis für meine wahre Größe.

Als ich ihm anläßlich eines Tribünensonntages kurz vor dem Rednerpult entgegentrat, den Parteigruß bot, ihn zuerst blank anblickte, dann mit dem Auge zwinkernd zuflüsterte: »Bebra ist unser Führer!« ging dem Löbsack nicht etwa ein Licht auf, sondern er streichelte mich genau wie die NS— Frauenschaft und ließ schließlich Oskar — weil er ja seine Rede halten mußte — von der Tribüne weisen, wo ihn zwei BdM-Führerinnen in die Mitte nahmen und während der ganzen Kundgebung nach »Vati und Mutti« ausfragten.

So kann es nicht verwundern, wenn mich die Partei schon im Sommer vierunddreißig, doch nicht vom Röhmputsch beeinflußt, zu enttäuschen begann. Je länger ich mir die Tribüne, vor der Tribüne stehend, ansah, um so verdächtiger wurde mir jene Symmetrie, die durch Löbsacks Buckel nur ungenügend gemildert wurde. Es liegt nahe, daß meine Kritik sich vor allen Dingen an den Trommlern und Fanfarenbläsern rieb; und im August fünfunddreißig ließ ich mich an einem schwülen Kundgebungssonntag mit dem Spielmanns-und Fanfarenzugvolk am Fuß der Tribüne ein.

Matzerath verließ schon um neun Uhr die Wohnung. Ich hatte ihm noch beim Wichsen der braunen Ledergamaschen geholfen, damit er rechtzeitig aus dem Haus kam. Selbst zu dieser frühen Tagesstunde war es schon unerträglich heiß, und er schwitzte sich dunkle, wachsende Flecken unter die Ärmel seines Parteihemdes, bevor er im Freien war. Punkt halb zehn stellte sich in luftig hellem Sommeranzug mit durchbrochenen, feingrauen Halbschuhen, einen Strohhut tragend, Jan Bronski ein.

Jan spielte ein bißchen mit mir, konnte aber beim Spiel die Augen nicht von Mama lassen, die sich am Vorabend die Haare gewaschen hatte. Recht bald bemerkte ich, daß meine Anwesenheit das Gespräch der beiden hemmte, ihr Handeln steif und Jans Bewegungen behindert wirken ließ. Offensichtlich wurde ihm seine leichte Sommerhose zu eng, und ich trollte mich davon, folgte den Spuren Matzeraths, ohne in ihm ein Vorbild zu sehen. Vorsichtig vermied ich Straßen, die voller in Richtung Maiwiese strebender Uniformierter waren, und näherte mich erstmals dem Kundgebungsfeld von den Tennisplätzen her, die neben der Sporthalle lagen. Diesem Umweg verdankte ich die Hinteransicht der Tribüne.

Haben Sie schon einmal eine Tribüne von hinten gesehen? Alle Menschen sollte man — nur um einen Vorschlag zu machen — mit der Hinteransicht einer Tribüne vertraut machen, bevor man sie vor Tribünen versammelt. Weir jemals eine Tribüne von hinten anschaute, recht anschaute, wird von Stund an gezeichnet und somit gegen jegliche Zauberei, die in dieser oder jener Form auf Tribünen zelebriert wird, gefeit sein. Ähnliches kann man von den Hinteransichten kirchlicher Altäre sagen; doch das steht auf einem anderen Blatt.

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