Die Blechtrommel (16 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Des Onkels Namen wie ein Stichwort wertend, erhob sich Markus sogleich, klappmesserte eine Verbeugung und ließ hören: »Verzeihn Se dem Markus, hattä sich doch gleich gedacht, daß es wegen dem nich mecht sein.«

Als wir den Laden in der Zeughauspassage verließen, schloß der Händler, obgleich noch nicht Geschäftsschluß war, von außen ab und begleitete uns zur Haltestelle der Linie Fünf. Vor der Fassade des Stadttheaters standen noch immer Passanten und einige Polizisten. Ich fürchtete mich aber nicht und hatte meine Erfolge dem Glas gegenüber kaum noch gegenwärtig. Markus beugte sich zu mir, flüsterte mehr zu sich als zu uns: »Was er nich alles kann, der Oskar. De Trommel schlägt er und macht Skandal vorm Theater.«

Mamas angesichts der Scherben aufkommende Unsicherheit beschwichtigte er mit Handbewegungen, und als die Bahn kam und wir in den Anhänger einstiegen, beschwor er noch einmal leise, eventuelle Zuhörer fürchtend: »No, denn bleiben Se gefälligst bei dem Matzerath, den Se haben und setzen Se nich merr auf Polen.« — Wenn Oskar heute in seinem Metallbett liegend oder sitzend, in jeder Lage aber trommelnd, die Zeughauspassage, die Kritzeleien auf den Kerkerwänden des Stockturmes, den Stockturm selber und seine geölten Folterinstumente, die drei Foyerfenster des Stadttheaters hinter den Säulen und wieder die Zeughauspassage und den Laden des Sigismund Markus aufsucht, um Einzelheiten eines Septembertages nachzeichnen zu können, muß er auch gleichzeitig das Land der Polen suchen. Sucht es womit? Er sucht es mit seinen Trommelstöcken. Sucht er das Land der Polen auch mit seiner Seele?

Mit allen Organen sucht er, aber die Seele ist kein Organ.

Und ich suche das Land der Polen, das verloren ist, das noch nicht verloren ist. Andere sagen: bald verloren, schon verloren, wieder verloren. Hierzulande sucht man das Land der Polen neuerdings mit Krediten, mit der Leica, mit dem Kompaß, mit Radar, Wünschelruten und Delegierten, mit Humanismus, Oppositionsführern und Trachten einmottenden Landsmannschaften. Während man hierzulande das Land der Polen mit der Seele sucht — halb mit Chopin, halb mit Revanche im Herzen — während sie hier die erste bis zur vierten Teilung verwerfen und die fünfte Teilung Polens schon planen, während sie mit Air France nach Warschau fliegen, und an jener Stelle bedauernd ein Kränzchen hinterlegen, wo einst das Getto stand, während man von hier aus das Land der Polen mit Raketen suchen wird, suche ich Polen auf meiner Trommel und trommle: Verloren, noch nicht verloren, schon wieder verloren, an wen verloren, bald verloren, bereits verloren, Polen verloren, alles verloren, noch ist Polen nicht verloren.

DIE TRIBÜNE

Indem ich die Foyerfenster unseres Stadttheaters zersang, suchte und fand ich zum erstenmal Kontakt mit der Bühnenkunst. Mama muß trotz starker Beanspruchung durch den Spielzeughändler Markus an jenem Nachmittag mein direktes Verhältnis zum Theater bemerkt haben, denn während der folgenden Weihnachtszeit kaufte sie vier Theaterkarten, für sich, für Stephan und Marga Bronski, auch für Oskar, und nahm uns drei am letzten Adventssonntag zum Weihnachtsmärchen mit. Zweiter Rang Seite, erste Reihe saßen wir. Der Protzlüster, über dem Parkett hängend, tat, was er konnte. So war ich froh, daß ich ihn vom Stockturm herab nicht zersungen hatte.

Es gab damals schon viel zu viel Kinder. Mehr Kinder als Mütter gab es auf den Rängen, während sich das Verhältnis von Kind zu Mutter im Parkett, wo die Begüterten und im Zeugen Vorsichtigeren saßen, ungefähr die Waage hielt. Daß Kinder nicht ruhig sitzen können! Marga Bronski, die zwischen mir und dem verhältnismäßig sittsamen Stephan saß, rutschte vom Klappolster, wollte wieder hinauf, fand es sogleich schöner, vor der Rangbrüstung zu-turnen, klemmte sich fast im Klappmechanismus, schrie aber im Vergleich zu den anderen Schreihälsen um uns herum noch erträglich und kurzfristig, weil ihr Mama den törichten Kindermund mit Bonbons stopfte. Lutschend und durch die Rutscherei auf dem Polster vorzeitig ermüdet, schlief Stephans kleine Schwester kurz nach Vorstellungsbeginn ein, mußte nach den Aktschlüssen fürs Klatschen, was sie auch fleißig besorgte, geweckt werden.

Es wurde das Märchen vom Däumeling gegeben, was mich von der ersten Szene an fesselte und verständlicherweise persönlich ansprach. Man machte es geschickt, zeigte den Däumeling gar nicht, ließ nur seine Stimme hören und die erwachsenen Personen hinter dem unsichtbaren, aber recht aktiven Titelhelden des Stücks herspringen. Da saß er dem Pferd im Ohr, da ließ er sich vom Vater für schweres Geld an zwei Strolche verkaufen, da erging er sich auf des einen Strolches Hutkrempe, sprach von dort oben herab, kroch später in ein Mauseloch, dann in ein Schneckenhaus, machte mit Dieben gemeinsame Sache, geriet ins Heu und mit dem Heu in den Magen der Kuh. Die Kuh aber wurde geschlachtet, weil sie mit Däumelings Stimme sprach. Der Magen der Kuh aber wanderte mit dem gefangenen Kerlchen auf den Mist und wurde von einem Wolf verschluckt. Den Wolf aber lenkte Däumeling mit klugen Worten in seines Vaters Haus und Vorratskammer und schlug dort Lärm, als der Wolf zu rauben gerade beginnen wollte. Der Schluß war, wie's im Märchen zugeht: der Vater erschlug den bösen Wolf, die Mutter öffnete mit einer Schere Leib und Magen des Freßsacks, heraus kam Däumeling, das heißt, man hörte ihn nur rufen: »Ach, Vater, ich war in einem Mauseloch, in einer Kuh Bauch und in eines Wolfes Wanst: nun bleib ich bei Euch.«Mich rührte dieser Schluß, und als ich zu Mama hinaufblinzelte, bemerkte ich, daß sie die Nase hinter dem Taschentuch barg, weil sie gleich mir die Handlung auf der Bühne zum eigensten Erlebnis gemacht hatte. Mama ließ sich gerne rühren, drückte mich während der folgenden Wochen, vor allen Dingen, solange das Weihnachtsfest dauerte, immer wieder an sich, küßte mich und nannte Oskar bald scherzhaft, bald wehmütig:

Däumling. Oder: Mein kleiner Däumling. Oder: Mein armer, armer Däumling.

Erst im Sommer dreiunddreißig sollte ich wieder Theater geboten bekommen. Durch ein Mißverständnis meinerseits ging die Sache zwar schief, beeindruckte mich aber nachwirkend. So tönt und wogt es noch heute in mir, denn es ereignete sich in der Waldoper Zoppot, wo unter freiem Nachthimmel Sommer für Sommer Wagnermusik der Natur anvertraut wurde.

An sich hatte nur Mama etwas für Opern übrig. Für Matzerath waren selbst Operetten zu viel. Jan richtete sich nach Mama", schwärmte für Arien, obgleich er trotz seines musikalischen Aussehens vollkommen harthörig für schöne Klänge war. Dafür kannte er aber die Brüder Formella, ehemalige Mitschüler aus der Mittelschule Karthaus, die in Zoppot wohnten, die Beleuchtung des Seesteges, des Springbrunnens vor dem Kurhaus und Kasino unter sich hatten und gleichfalls als Beleuchter bei den Festspielen in der Waldoper wirkten.

-Der Weg nach Zoppot führte über Oliva. Ein Vormittag im Schloßpark. Goldfische, Schwäne, Mama und Jan Bronski in der berühmten Flüstergrotte. Dann wieder Goldfische und Schwäne, die Hand in Hand mit einem Fotografen arbeiteten. Matzerath ließ mich, während die Aufnahme gemacht wurde, auf den Schultern reiten. Ich stützte die Trommel auf seinen Scheitel, was allgemein, auch später, als das Bildchen schon im Fotoalbum klebte, Gelächter hervorrief. Abschied von Goldfischen, Schwänen, von der Flüstergrotte. Nicht nur im Schloßpark war Sonntag, auch vor dem Eisengitter und in der Straßenbahn nach Glettkau und im Kurhaus Glettkau, wo wir zu Mittag aßen, während die Ostsee unentwegt, als hätte sie nichts anderes zu tun, zum Baden einlud, überall war Sonntag. Als uns die Strandpromenade nach Zoppot führte, kam uns der Sonntag entgegen, und Matzerath mußte für alle Kurtaxe zahlen.

Wir badeten im Südbad, weil es dort angeblich leerer als im Nordbad war. Die Herren zogen sich im Herrenbad um, Mama führte mich in eine Zelle des Damenbades, verlangte von mir, daß ich mich nackt im Familienbad zeigte, während sie, die damals schon üppig über die Ufer trat, ihr Fleisch in ein strohgelbes Badekostüm goß. Um dem tausendäugigen Familienbad nicht allzu bloß zu begegnen, hielt ich mir meine Trommel vors Geschlecht und legte mich später bäuchlings in den Seesand, wollte auch nicht ins einladende Ostseewasser, sondern meine Scham im Sand aufbewahren und Vogelstraußpolitik betreiben. Matzerath, auch Jan Bronski sahen mit ihren beginnenden Schmerbäuchen so lächerlich und beinahe bedauernswert armselig aus, daß ich froh war, als am späten Nachmittag die Badekabinen aufgesucht wurden, wo jeder seinen Sonnenbrand eincremte und nivea-gesalbt wieder in die sonntägliche Zivilkleidung schlüpfte.

Kaffee und Kuchen im Seestern. Mama wollte ein drittes Stückchen von der fünfstöckigen Torte.

Matzerath war dagegen, Jan dafür und dagegen zugleich, Mama bestellte, gab Matzerath einen Happen ab, fütterte Jan, stellte ihre beiden Männer zufrieden, bevor sie sich den übersüßen Keil Löffelchen für Löffelchen in den Magen rammte.

Oh, heilige Buttercreme, du mit Puderzucker bestäubter, heiter bis wolkiger Sonntagnachmittag!

Polnische Adlige saßen hinter blauen Sonnenbrillen und intensiven Limonaden, die sie nicht berührten. Mit violetten Fingernägeln spielten die Damen und ließen uns den Mottenpulvergeruch ihrer Pelzcapes, die sie jeweils für die Saison ausliehen, mit dem Seewind zukommen. Matzerath fand das affig. Mama hätte sich gerne gleichfalls und wenn nur für einen Nachmittag solch ein Pelzcape ausgeliehen. Jan behauptete, die Langeweile des polnischen Adels stehe momentan so in Blüte, daß man trotz wachsender Schulden nicht mehr Französisch spreche, sondern aus lauter Snobismus gewöhnlichstes Polnisch.

Man konnte nicht im Seestern sitzen bleiben und unentwegt polnischen Adligen auf blaue Sonnenbrillen und violette Fingernägel schauen. Meine mit Torte gefüllte Mama verlangte nach Bewegung, Es nahm uns der Kurpark auf, ich mußte auf einem Esel reiten und abermals für ein Foto stillhalten. Goldfische, Schwäne — was der Natur nicht alles einfällt — und abermals Goldfische und Schwäne, Süßwasser wertvoll machend.

Zwischen frisiertem Taxus, der aber nicht flüsterte, wie man immer behauptet, trafen wir die Brüder Formella, die Kasinobeleuchter Formella, die Beleuchter der Waldoper, Formella. Der jüngere Formelle mußte erst immer alle Witze loswerden, die ihm bei seinem Beruf als Beleuchter zu Ohren kamen. Der ältere Bruder Formella kannte die Witze und lachte dennoch aus brüderlicher Liebe ansteckend an den richtigen Stellen und zeigte dabei einen Goldzahn mehr als sein jüngerer Bruder, der nur drei hatte. Man ging bei Springer ein Machandelchen trinken. Mama war mehr für Kurfürsten.

Dann, immer noch Witze vom Vorrat verschenkend, lud der spendable jüngere Formella zum Abendessen im »Papagei« ein. Dort traf man Tuschel, und Tuschel gehörte halb Zoppot, dazu ein Stück Waldoper und fünf Kinos. Auch war er der Chef der Formellabrüder und freute sich, wie wir uns freuten, uns kennengelernt, ihn kennengelernt zu haben. Tuschel drehte unermüdlich einen Ring an seinem Finger, der aber dennoch kein Wunschring oder Zauberring sein konnte, denn es passierte rein gar nichts, außer daß Tuschel seinerseits anfing, Witze zu erzählen, und zwar dieselben Formellawitze von vorher, nur umständlicher, weil über weniger Goldzähne verfügend. Dennoch lachte der ganze Tisch, weil Tuschel die Witze erzählte. Nur ich hielt mich ernst und versuchte mit starrer Miene Pointen zu töten. Ach, wie die Lachsalven, wenn auch nicht echt, doch ähnlich den Butzenscheiben an der Fensterfront unserer Freßecke, Gemütlichkeit verbreiteten. Der Tuschel zeigte sich dankbar, erzählte immer noch einen Witz, ließ Goldwasser kommen, drehte glücklich, in Gelächter und Goldwasser schwimmend, plötzlich den Ring anders herum, und es passierte wirklich etwas. Tuschel lud uns alle in die Waldoper ein, da ihm ja ein Stückchen der Waldoper gehöre, er könne leider nicht, Verabredung und so, aber wir möchten doch mit seinen Plätzen vorlieb nehmen, wäre Loge, gepolstert, Kindchen könnte schlafen, wenn müde; und er schrieb mit silbernem Drehbleistift Tuschelworte auf Tuscheis Visitenkärtchen, das würde Tür und Tor öffnen, sagte er — und so war es dann auch.

Was sich ereignete, wird mit wenigen Worten zu sagen sein: Ein lauer Sommerabend, die Waldoper voll und ganz ausländisch. Schon bevor es losging, waren die Mücken da. Aber erst als die letzte Mücke, die immer ein wenig zu spät kommt, das vornehm findet, ihre Ankunft blutrünstig sirrend verkündete, ging es wirklich und gleichzeitig los. Es wurde der Fliegende Holländer gegeben. Ein Schiff schob sich mehr waldfrevelnd als seeräubernd aus jenem Wald, welcher der Waldoper den Namen gegeben hatte. Matrosen sangen die Bäume an. Ich schlief ein auf Tuscheis Polster, und als ich erwachte, sangen noch immer Matrosen oder schon wieder Matrosen: Steuermann halt die Wacht...

aber Oskar entschlief abermals, freute sich im Entschlummern, daß seine Mama solchen Anteil an dem Holländer nahm, wie auf Wogen glitt und wagnerisch ein-und ausatmete. Sie merkte nicht, daß Matzerath und ihr Jan hinter vorgehaltenen Händen verschieden starke Bäume ansägten, daß auch ich immer wieder dem Wagner aus den Fingern rutschte, bis Oskar endgültig erwachte, weil mitten im Wald ganz einsam eine schreiende Frau stand. Gelbhaarig war die und schrie, weil ein Beleuchter, wahrscheinlich der jüngere Formella, sie mit einem Scheinwerfer blendete und belästigte. »Nein!« schrie sie, »Weh mir!« und: »Wer tut mir das an?« Aber der Formella, der ihr das antat, stellte den Scheinwerfer nicht ab, und das Geschrei der einsamen Frau, die Mama hinterher als Solistin betitelte, ging in ein dann und wann silbern aufschäumendes Gewimmer über, das zwar die Blätter an den Bäumen des Zoppoter Waldes vorzeitig welken ließ, aber Formellas Scheinwerfer nicht traf und erledigte. Ihre Stimme, obgleich begabt, versagte. Oskar mußte einspringen, die unerzogene Lichtquelle ausfindig machen und mit einem einzigen, fernwirkenden Schrei, die leise Dringlichkeit der Mücken noch unterbietend, jenen Scheinwerfer töten.

Daß es Kurzschluß, Finsternis, springende Funken und einen Waldbrand gab, der zwar eingedämmt werden konnte, dennoch Panik hervorrief, war nicht von mir beabsichtigt, verlor ich doch im Gedränge nicht nur Mama und die beiden unsanft geweckten Herren; auch meine Trommel ging in dem Durcheinander verloren.

Diese, meine dritte Begegnung mit dem Theater brachte Mama, die nach dem Waldopernabend Wagner, leicht gesetzt, in unserem Klavier beheimatete, auf den Gedanken, mich im Frühjahr vierunddreißig mit der Zirkusluft bekanntzumachen.

Oskar will hier nicht von silbernen Damen am Trapez, von den Tigern des Zirkus Busch, von geschickten Seehunden plaudern. Es stürzte niemand aus der Zirkuskuppel. Keinem Dompteur wurde etwas abgebissen. Auch taten die Seehunde, was sie gelernt hatten: jonglierten Bälle und bekamen lebendige Heringe als Belohnung zugeworfen. Ich verdanke dem Zirkus vergnügliche Kindervorstellungen und jene für mich so wichtige Bekanntschaft mit Bebra, dem Musikalclown, der »Jimmy the Tiger« auf Flaschen spielte und eine Liliputanergruppe leitete.

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