Die Blechtrommel (15 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Sie sprachen vor mir ganz ungeniert und ihre Reden bestätigten, was ich schon lange wußte: Mama und Onkel Jan trafen sich fast jeden Donnerstag in einem auf Jans Kosten gemieteten Zimmer der Pension in der Tischlergasse, um es eine Dreiviertelstunde lang miteinander zu treiben.

Wahrscheinlich war es Jan, der den Wunsch äußerte, mich nicht mehr in die Tischlergasse und anschließend ins Cafe Weitzke mitzunehmen. Er war mitunter sehr schamhaft und schamhafter als Mama, die nichts dabei fand, wenn ich Zeuge einer ausklingenden Liebesstunde war, von deren Rechtmäßigkeit sie immer, auch hinterher, überzeugt zu sein schien.

So blieb ich, auf Jans Wunsch, fast jeden Donnerstag nachmittag von halb fünf bis kurz vor sechs beim Sigismund Markus, durfte das Sortiment seiner Blechtrommeln betrachten, benutzen, durfte — wo wäre das Oskar sonst möglich gewesen — auf mehreren Trommeln gleichzeitig laut werden und dem Markus ins traurige Hundegesicht blicken. Wenn ich auch nicht wußte, wo seine Gedanken herkamen, ahnte ich, wo sie hingingen, daß sie in der Tischlergasse weilten, dort an numerierten Zimmertüren schabten oder sie hockten gleich dem armen Lazarus unter dem Marmortischchen des Cafe Weitzke, worauf wartend? Auf Krümel?

Mama und Jan Bronski ließen kein Krümelchen übrig. Die aßen alles selbst auf. Die hatten den großen Appetit, der nie aufhört, der sich selbst in den Schwanz beißt. Die waren so beschäftigt, daß sie die Gedanken des Markus unter dem Tisch allenfalls für die aufdringliche Zärtlichkeit eines Luftzuges genommen hätten.

An einem jener Nachmittage — es wird im September gewesen sein, denn Mama verließ den Laden des Markus im rostbraunen Herbstkomplet — trieb es mich, da ich den Markus versunken, vergraben und wohl auch verloren hinter dem Ladentisch wußte, mit meiner gerade neuerstandenen Trommel hinaus in die Zeughauspassage, den kühldunklen Tunnel, an dessen Seiten sich ausgesuchteste Geschäfte, wie Juwelierläden, Feinkosthandlungen und Büchereien, Schaufenster an Schaufenster reihten. Mich hielt es jedoch nicht vor den sicher preiswerten, mir dennoch unerschwinglichen Auslagen; vielmehr trieb es mich aus dem Tunnel hinaus auf den Kohlenmarkt. Mitten hinein in staubiges Licht stellte ich mich vor die Fassade des Zeughauses, deren basaltfarbenes Grau mit verschieden großen Kanonenkugeln, verschiedenen Belagerungszeiten entstammend, gespickt war, damit jene Eisenbuckel die Historie der Stadt jedem Passanten in Erinnerung riefen. Mir sagten die Kugeln nichts, zumal ich wußte, daß sie nicht von alleine stecken geblieben waren, daß es einen Maurer in dieser Stadt gab, den das Hochbauamt in Verbindung mit dem Amt für Denkmalschutz beschäftigte und bezahlte, damit er die Munition vergangener Jahrhunderte in den Fassaden diverser Kirchen, Rathäuser, so auch in der Front-wie Rückseite des Zeughauses einmauerte.

Ich wollte ins Stadttheater, das zur rechten Hand, nur durch eine schmale, lichtlose Gasse vom Zeughaus getrennt, sein Säulenportal zeigte. Da ich das Stadttheater, wie ich es mir gedacht hatte, um diese Zeit verschlossen fand — die Abendkasse machte erst um sieben auf — trommelte ich mich unentschlossen, schon einen Rückzug erwägend, nach links, bis Oskar zwischen dem Stockturm und dem Langsamer Tor stand. Durch das Tor in die Langgasse und dann links einbiegend in die Große Wollwebergasse wagte ich mich nicht, denn da saßen Mama und Jan Bronski, und wenn sie noch nicht saßen, so waren sie in der Tischlergasse vielleicht gerade fertig oder schon unterwegs zu ihrem erfrischenden Mokka am Marmortischchen.

Ich weiß nicht, wie ich über die Fahrbahn des Kohlenmarktes kam, auf der ständig Straßenbahnen entweder durchs Tor wollten oder sich aus dem Tor klingelnd und in der Kurve kreischend zum Kohlenmarkt, Holzmarkt, Richtung Hauptbahnhof wanden. Vielleicht nahm mich ein Erwachsener, ein Polizist womöglich bei der Hand und leitete mich fürsorglich durch die Gefahren des Verkehrs.

Ich stand vor dem steil gegen den Himmel gestützten Backstein des Stockturms und klemmte eigentlich nur zufällig, aus aufkommender Langeweile meine Trommelstöcke zwischen das Mauerwerk und den eisenbeschlagenen Anschlag der Turmtür. Sobald ich den Blick am Backstein hochschickte, war es schwierig, ihn an der Fassade entlanglaufen zu lassen, weil sich ständig Tauben aus Mauernischen und Turmfenstern abstießen, um gleich darauf auf Wasserspeiern und Erkern für kurze, taubenbemessene Zeit zu ruhen, dann wieder abfallend vom Gemäuer meinen Blick mitzureißen.

Mich ärgerte das Geschäft der Tauben. Mein Blick war mir zu schade, ich nahm ihn zurück und benutzte ernsthaft, auch um meinen Ärger loszuwerden, beide Trommelstöcke als Hebel: die Tür gab nach und Oskar war, ehe er sie ganz aufgestoßen hatte, schon drinnen im Turm, schon auf der Wendeltreppe, stieg schon, immer das rechte Bein vorsetzend, das linke nachziehend, erreichte die ersten vergitterten Verliese, schraubte sich höher, ließ die Folterkammer mit ihren sorgfältig gepflegten und unterweisend beschrifteten Instrumenten hinter sich, warf beim weiteren Aufstieg — er setzte jetzt das linke Bein vor, zog das rechte nach — einen Blick durch ein schmalvergittertes Fenster, schätzte die Höhe ab, begriff die Dicke des Mauerwerkes, scheuchte Tauben auf, traf dieselben Tauben eine Drehung der Wendeltreppe höher wieder an, setzte abermals rechts vor, um links nachzuziehen, und als Oskar nach weiterem Wechsel der Beine oben war, hätte er noch lange so weiter steigen mögen, obgleich ihm das rechte wie linke Bein schwer waren. Aber die Treppe hatte es vorzeitig aufgegeben. Er erfaßte den Unsinn und die Ohnmacht des Turmbaues.

Ich weiß nicht, wie hoch der Stockturm war und noch ist, denn er überdauerte den Krieg. Auch habe ich keine Lust, meinen Pfleger Bruno um ein Nachschlagewerk über ostdeutsche Backsteingotik zu bitten. Ich schätze, er wird bis zur Turmspitze gut und gerne seine fünfundvierzig Meter gehabt haben.

Ich, und das lag an der zu schnell ermüdenden Wendeltreppe, hatte auf einer Galerie haltmachen müssen, die den Turmhelm umlief. Ich setzte mich, schob die Beine zwischen die Säulchen der Balustrade, beugte mich vor und blickte an einer Säule, die ich mit dem rechten Arm umklammert hielt, vorbei und hinunter auf den Kohlenmarkt, während ich mich links meiner Trommel vergewisserte, die den ganzen Aufstieg mitgemacht hatte.

Ich will Sie nicht mit der Beschreibung eines vieltürmigen, mit Glocken läutenden, altehrwürdigen, angeblich noch immer vom Atem des Mittelalters durchwehten, auf tausend guten Stichen abgebildeten Panoramas, mit der Vogelschau der Stadt Danzig langweilen. Gleichfalls lasse ich mich nicht auf die Tauben ein, auch wenn es zehnmal heißt, über Tauben könne man gut schreiben. Mir sagt eine Taube so gut wie gar nichts, eine Möwe schon etwas mehr. Der Ausdruck Friedenstaube will mir nur als Paradox stimmen. Eher würde ich einem Habicht oder gar Aasgeier eine Friedensbotschaft anvertrauen als der Taube, der streitsüchtigsten Mieterin unter dem Himmel. Kurz und gut: auf dem Stockturm gab es Tauben. Aber Tauben gibt es schließlich auf jedem anständigen Turm, der mit Hilfe seiner ihm zustehenden Denkmalpfleger auf sich hält.

Auf etwas ganz anderes hatte es mein Blick abgesehen: auf das Gebäude des Stadttheaters, das ich, aus der Zeughauspassage kommend, verschlossen gefunden hatte. Der Kasten zeigte mit seiner Kuppel eine verteufelte Ähnlichkeit mit einer unvernünftig vergrößerten, klassizistischen Kaffeemühle, wenn ihm auch am Kuppelknopf jener Schwengel fehlte, der nötig gewesen wäre, in einem allabendlich vollbesetzten Musen-und Bildungstempel ein fünfaktiges Drama samt Mimen, Kulissen, Souffleuse, Requisiten und allen Vorhängen zu schaurigem Schrot zu mahlen. Mich ärgerte dieser Bau, von dessen säulenflankierten Foyerfenstern eine absackende und immer mehr Rot auftragende Nachmittagssonne nicht lassen wollte.

Zu jener Stunde, etwa dreißig Meter über dem Kohlenmarkt, über Straßenbahnen und Büroschluß feiernden Angestellten, hoch überm süßriechenden Ramschladen des Markus, über den kühlen Marmortischchen des Cafe Weitzke, zwei Tassen Mokka, Mama und Jan Bronski überragend, auch unser Mietshaus, den Hof, die Höfe, verbogene und gerade Nägel, die Kinder der Nachbarschaft und deren Ziegelsuppe unter mir lassend, wurde ich, der ich bislang nur aus zwingenden Gründen geschrien hatte, zu einem Schreier ohne Grund und Zwang. Hatte ich bis zur Besteigung des Stockturmes meine dringlichen Töne nur dann ins Gefüge eines Glases, ins Innere der Glühbirnen, in eine abgestandene Bierflasche geschickt, wenn man mir meine Trommel nehmen wollte, schrie ich vom Turm herab, ohne daß meine Trommel im Spiel war.

Niemand wollte Oskar die Trommel nehmen, trotzdem schrie er. Nicht etwa, daß ihm eine Taube ihren Dreck auf die Trommel geworfen hätte, um ihm einen Schrei abzukaufen. In der Nähe gab es zwar Grünspan auf Kupferplatten, aber kein Glas; Oskar schrie trotzdem. Die Tauben hatten rötlich blanke Augen, aber kein Glasauge äugte ihn an; dennoch schrie er. Wohin schrie er, welche Distanz lockte ihn? Sollte, was auf dem Dachboden, nach dem Genuß der Ziegelmehlsuppe planlos über Höfe hinweg versucht wurde, hier zielstrebig demonstriert werden? Welches Glas meinte Oskar? Mit welchem Glas — und es kam ja nur Glas in Frage — wollte Oskar Experimente anstellen?

Es war das Theater der Stadt, die dramatische Kaffeemühle, die meine neuartigen, erstmals auf unserem Dachboden ausprobierten, ich möchte sagen, ans Manierierte grenzenden Töne in ihre Abendsonnenfensterscheiben lockte. Nach wenigen Minuten verschieden geladenen Geschreis, das jedoch nichts ausrichtete, gelang mir ein nahezu lautloser Ton, und mit Freude und verräterischem Stolz durfte Oskar sich melden: zwei mittlere Scheiben im linken Foyerfenster hatten den Abendsonnenschein aufgeben müssen, lasen sich als zwei schwarze, schleunigst neu zu verglasende Vierecke ab.

Es galt, den Erfolg zu bestätigen. Gleich einem modernen Kunstmaler produzierte ich mich, der seinen einmal gefundenen, seit Jahren gesuchten Stil zeitigt, indem er eine ganze Serie gleichgroßartiger, gleichkühner, gleichwertiger, oftmals gleichformatiger Fingerübungen seiner Manier der verblüfften Welt schenkt.

Es gelang mir, innerhalb einer knappen Viertelstunde alle Fenster des Foyers und einen Teil der Türen zu entglasen. Vor dem Theater sammelte sich eine, wie es von oben aussah, aufgeregte Menschenmenge. Es gibt immer Schaulustige. Mich beeindruckten die Bewunderer meiner Kunst nicht besonders. Allenfalls veranlaßten sie Oskar, noch strenger, noch formaler zu arbeiten. Gerade wollte ich mich anschicken, mit einem noch kühneren Experiment das Innere aller Dinge freizulegen, nämlich durchs offene Foyer hindurch, durchs Schlüsselloch einer Logentür in den noch dunklen Theaterraum hinein einen speziellen Schrei schicken, der den Stolz aller Abonnenten, den Kronleuchter des Theaters mit all seinem geschliffenen, spiegelnden, lichtbrechend facettierten Klimborium treffen sollte, da erblickte ich einen rostbraunen Stoff in der Menge vor dem Theater: Mama hatte vom Cafe Weitzke zurückgefunden, hatte den Mokka genossen, Jan Bronski verlassen.

Es sei aber zugegeben, daß Oskar dennoch einen Schrei auf den Protzlüster losschickte. Er schien jedoch keinen Erfolg gehabt zu haben, denn die Zeitungen berichteten am nächsten Tage nur von den aus rätselhaften Gründen zersprungenen Foyer-und Türscheiben. Halbwissenschaftliche und auch wissenschaftliche Untersuchungen im feuilletonistischen Teil der Tagespresse breiteten noch wochenlang spaltenreichen phantastischen Unsinn aus. Die »Neuesten Nachrichten« wußten von kosmischen Strahlen zu erzählen. Leute von der Sternwarte, also hochqualifizierte Geistesarbeiter, sprachen von Sonnenflecken.

Ich fand damals, so schnell es meine kurzen Beine erlaubten, die Wendeltreppe des Stockturmes hinunter und erreichte einigermaßen atemlos die Menge vor dem Theaterportal. Mamas rostbraunes Herbstkomplet leuchtete nicht mehr, sie mußte im Laden des Markus sein, berichtete vielleicht über Schäden, die meine Stimme verursacht haben mußte. Und der Markus, der meinen sogenannten zurückgebliebenen Zustand, auch meine diamantene Stimme wie das natürlichste Geschehen hinnahm, würde mit der Zungenspitze wedeln, so dachte Oskar, und die weißgelblichen Hände reiben.

Im Ladeneingang bot sich mir ein Bild, das sofort alle Erfolge des scheibenvernichtenden Ferngesanges vergessen ließ. Sigismund Markus kniete vor meiner Mama, und all die Stofftiere, Bären, Affen, Hunde, sogar Puppen mit Klappaugen, desgleichen Feuerwehrautos, Schaukelpferde, auch alle seinen Laden hütenden Hampelmänner schienen mit ihm aufs Knie fallen zu wollen. Er aber hielt mit zwei Händen Mamas beide Hände verdeckt, zeigte hellbeflaumte, bräunliche Flecken auf den Handrücken und weinte.

Auch Mama blickte ernst und der Situation entsprechend beteiligt. »Nicht Markus«, sagte sie, »bitte nicht hier im Laden.«

Doch Markus fand kein Ende, und seine Rede hatte einen mir unvergeßlichen, beschwörenden und zugleich übertriebenen Tonfall: »Machen Se das nich mä middem Bronski, wo er doch bei de Post is, die polnisch is und das nich gut geht, sag ich, weil er is midde Polen. Setzen Se nicht auf de Polen, setzen Se, wenn Se setzen wollen, auf de Deutschen, weil se hochkommen, wenn nich heil dann morgen; und sind se nich schon wieder bißchen hoch und machen sich, und de Frau Agnes setzt immer noch auffen Bronski. Wenn Se doch würd setzen auffen Matzerath, den Se hat, wenn schon. Oder wenn Se mechten setzen gefälligst auffen Markus und kommen Se middem Markus, wo er getauft is seit neilich. Gehn wä nach London, Frau Agnes, wo ich Lait hab drieben und Papiere genug, wenn Se nur wollten kommen oder wolln Se nich middem Markus, weil Se ihn verachten, nu denn verachten Se ihn. Aber er bittet Ihnen von Herzen, wenn Se doch nur nicht mehr setzen wollen auffen meschuggenen Bronski, da bei de polnische Post bleibt, wo doch bald färtich is midde Polen, wenn se kommen de Deitschen ! «

Gerade als auch Mama, von soviel Möglichkeiten und Unmöglichkeiten verwirrt, zu Tränen kommen wollte, erblickte mich Markus in der Ladentür und wies, Mamas eine Hand freilassend, mit fünf sprechenden Fingern auf mich: »No bittschen, den werden wä auch mitnehmen nach London. Wie Prinzchen soll er es haben, wie Prinzchen!«

Nun blickte mich auch Mama an und kam zu einigem Lachern. Vielleicht dachte sie an die scheibenlosen Foyerfenster des Stadttheaters,oder die in Aussicht gestellte Metropole London stimmte sie heiter. Zu meiner Überraschung schüttelte sie dennoch den Kopf und sagte leichthin, als würde sie einen Tanz ausschlagen: »Ich danke Ihnen, Markus, aber es geht nicht, wirklich nicht — wegen Bronski.«

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