Nicht nur vor der Kassiererin, auch vor wildfremden Typen, die wahrhaft unverschämt unsere Physiognomie erwanderten, schämten wir uns zu sehr, als daß wir gewagt hätten, die Reihe vor der Kasse zu verlängern.
So gingen wir damals nach fast jeder Filmvorführung in ein Fotogeschäft in der Nähe des Graf-Adolf-Platzes, um Paßbildaufnahmen von uns machen zu lassen. Man kannte uns dort schon, lächelte, wenn wir eintraten, bat aber freundlich Platz zu nehmen; wir waren Kunden, mithin geachtete Leute. Sobald die Kabine frei war, schob uns nacheinander ein Fräulein, von dem ich nur noch weiß, daß es nett war, in die Kabine, rückte und zupfte erst mich, dann Klepp mit einigen Griffen zurecht, hieß uns, auf einen bestimmten Punkt zu blicken, bis zuckendes Licht und eine mit dem Licht verbundene Klingel verrieten, daß wir nun sechsmal nacheinander auf der Platte waren.
Kaum fotografiert und noch leicht starr in den Mundwinkeln, drückte uns das Fräulein in bequeme Korbstühle und bat nett, nur nett und auch nett gekleidet, um fünf Minuten Geduld. Wir warteten gerne. Schließlich hatten wir etwas zu erwarten: unsere Paßbildchen, auf die wir so neugierig waren.
Nach knappen sieben Minuten reichte das immer noch nette, sonst unbeschreibliche Fräulein zwei Tütchen, und wir zahlten.
Dieser Triumph in Klepps leicht vortretenden Augen. Sobald wir die Tüten hatten, hatten wir auch den Anlaß, in die nächste Bierschwemme zu gehen; denn niemand betrachtet seine eigenen Paßbildaufnahmen gerne auf offener, staubiger Straße, im Lärm stehend, im Strom der Passanten ein Hindernis bildend. Wie wir dem Fotogeschäft treu waren, besuchten wir auch immer wieder dieselbe Kneipe in der Friedrichstraße. Bier, Blutwurst mit Zwiebeln und Schwarzbrot bestellend, breiteten wir, noch bevor das Bestellte gebracht wurde, die etwas feuchten Aufnahmen, das ganze Rund der hölzernen Tischplatte einbeziehend, aus und vertieften uns bei prompt serviertem Bier mit Blutwurst in die eigenen angestrengten Gesichtszüge.
Immer trugen wir außerdem Aufnahmen bei uns, die anläßlich des letzten Kinotages gemacht worden waren. So bot sich Gelegenheit zum Vergleich; und wo sich Gelegenheit zum Vergleich bietet, darf man auch ein zweites, drittes, viertes Glas Bier bestellen, damit Lustigkeit aufkommt oder, wie man im Rheinland sagt: Stimmung.
Dennoch soll hier nicht behauptet werden, daß es einem traurigen Menschen möglich ist, mittels einer Paßbildaufnahme seiner selbst, die eigene Trauer ungegenständlich zu machen; denn die echte Trauer ist schon an sich ungegenständlich, zumindest meine und auch Klepps ließ sich auf nichts zurückführen und bewies gerade in ihrer nahezu freifröhlichen Ungegenständlichkeit eine durch nichts zu vergrämende Stärke. Wenn es eine Möglichkeit gab, mit unserer Trauer anzubändeln, dann nur über die Fotos, weil wir in serienmäßig hergestellten Schnellaufnahmen uns selbst zwar nicht deutlich, aber, was wichtiger war, passiv und neutralisiert fanden. Wir konnten mit uns beliebig umgehen, Bier dabei trinken, mit Blutwürsten grausam sein, Stimmung aufkommen lassen und spielen. Wir knickten, falteten, zerschnitten mit Scheren, die wir eigens zu diesem Zweck immer bei uns trugen, die Bildchen. Wir setzten ältere und neuere Konterfeie zusammen, gaben uns einäugig, dreiäugig, beehrten uns mit Nasen, sprachen oder schwiegen mit dem rechten Ohr und boten dem Kinn die Stirn.
Nicht nur dem eigenen Abbild widerfuhren diese Montagen; Klepp lieh sich Details bei mir aus, ich erbat mir Charakteristisches von ihm: es gelang uns, neue und, wie wir hofften, glücklichere Geschöpfe zu erschaffen. Dann und wann verschenkten wir ein Foto.
Wir — ich beschränke mich auf Klepp und mich, lasse montierte Persönlichkeiten aus dem Spiel — wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, dem Kellner der Bierschwemme, den wir Rudi nannten, bei jedem Besuch, und die Schwemme sah uns wenigstens einmal in der Woche, ein Foto zu schenken. Rudi, ein Typ, der zwölf Kinder verdient hätte und die Vormundschaft für acht weitere, kannte unsere Not, besaß schon Dutzende Profilaufnahmen und noch mehr Bildchen en face, zeigte doch jedesmal ein anteilnehmendes Gesicht und sagte Dank, wenn wir nach langer Beratung und peinlich gestrenger Auswahl die Fotos überreichten.
Der Serviererin am Büfett und dem fuchsigen Mädchen mit dem Zigarettenbauchladen hat Oskar nie ein Foto geschenkt; denn Frauen soll man keine Fotos schenken — sie treiben nur Mißbrauch damit.
Klepp jedoch, der bei all seiner Behäbigkeit Frauen gegenüber sich nie genug tun konnte und mitteilsam bis zur Tollkühnheit vor jeder das Hemd gewechselt hätte, er muß eines Tages dem Zigarettenmädchen, ohne mein Wissen, ein Foto geschenkt haben, denn er hat sich mit dem grünen schnippischen Ding verlobt, hat es eines Tages geheiratet, weil er sein Foto wieder zurück haben will.
Ich habe vorgegriffen und den letzten Blättern des Fotoalbums zu viele Worte gewidmet. Die dummen Schnappschüsse verdienen es nicht oder nur im Sinne eines Vergleiches, der klarmachen sollte, wie groß und unerreichbar, ja künstlerisch das Porträt meines Großvaters Koljaiczek auf der ersten Seite des Fotoalbums heute noch auf mich wirkt.
Klein und breit steht er neben einem gedrechselten Tischchen. Leider ließ er die Aufnahme nicht als Brandstifter, sondern als freiwilliger Feuerwehrmann Wranka machen. Es fehlt ihm also der Schnauzbart. Aber die straff sitzende Feuerwehruniform mit Rettungsmedaille und dem das Tischchen zum Altar machenden Feuerwehrhelm ersetzen den Schnauz des Brandstifters beinahe. Wie ernst und um alles Leid der Jahrhundertwende wissend er dreinzublicken weiß. Jener bei aller Tragik noch stolze Blick schien in den Zeiten des zweiten Kaiserreiches beliebt und geläufig gewesen zu sein, zeigt ihn doch gleichfalls Gregor Koljaiczek, der trunkene, auf den Fotos eher nüchtern wirkende Pulvermüller. Mehr mystisch, weil in Tschenstochau aufgenommen, hält es den eine geweihte Kerze haltenden Vinzent Bronski fest. Ein Jugendbildnis des schmächtigen Jan Bronski ist ein mit den Mitteln der frühen Fotografie gewonnenes Zeugnis bewußt schwermütiger Männlichkeit.
Den Frauen jener Zeit gelang dieser Blick über entsprechender Haltung seltener. Selbst meine Großmutter Anna, die doch, bei Gott, eine Person war, ziert sich auf den Aufnahmen vor Ausbruch des ersten Weltkrieges hinter einem dümmlich draufgesetzten Lächeln und läßt nichts von der Asyl bietenden Spannweite ihrer vier übereinanderfallenden, so verschwiegenen Röcke ahnen.
Sie lächelten auch noch während der Kriegsjahre dem knipsknips machenden, unter schwarzem Tuch tänzelnden Fotografen zu. Gleich dreiundzwanzig Krankenschwestern, darunter Mama als Hilfskrankenschwester im Lazarett Silberhammer, habe ich verschüchtert, um einen Halt bietenden Stabsarzt drängend, auf festem Karton von doppelter Postkartengröße. Etwas lockerer geben sich die Lazarettdamen in der gestellten Szene eines Kostümfestes, bei dem auch fast genesene Krieger mitwirkten. Mama riskiert ein zugekniffenes Auge und einen Kußmund, der trotz ihrer Engelsflügel und Lamettahaare sagen will: Auch Engel haben ein Geschlecht. Der vor ihr knieende Matzerath hat eine Verkleidung gewählt, die er allzu gerne zur täglichen Kleidung gemacht hätte: er zeigt sich als löffelschwingender Koch unter gestärkter Kochmütze. Hingegen in Uniform, mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse behaftet, blickt auch er, den Koljaiczeks und Bronskis ähnlich, tragisch bewußt geradeaus und ist den Frauen auf allen Fotos überlegen.
Nach dem Kriege zeigte man ein anderes Gesicht. Die Männer schauen leicht abgemustert drein, und nun sind es die Frauen, die es verstehen, sich ins Bildformat zu stellen, die den Grund haben, ernst dreinzublicken, die, selbst wenn sie lächeln, die Untermalung gelernten Schmerz nicht leugnen wollen.
Sie stand ihnen gut, die Wehmut den Frauen der zwanziger Jahre. Gelingt es ihnen nicht, sitzend, stehend und halb liegend, schwarzhaarige Mondsicheln an die Schläfe klebend, zwischen Madonna und Käuflichkeit eine versöhnliche Bindung zu knüpfen?
Das Bild meiner dreiundzwanzigj ährigen Mama — es muß kurz vor Beginn ihrer Schwangerschaft aufgenommen worden sein — zeigt eine junge Frau, die den runden, ruhig geformten Kopf auf straff fleischigem Hals leicht neigt, den jeweiligen Beschauer ihres Bildes jedoch direkt anblickt, die bloß sinnlichen Konturen mit besagt wehmütigem Lächeln und einem Augenpaar auflöst, das gewohnt zu sein scheint, mehr grau als blau die Seelen der Mitmenschen wie auch die eigene Seele gleich einem festen Gegenstand — sagen wir, Kaffeetasse oder Zigarettenspitze — zu betrachten. Es dürfte das Wörtchen seelenvoll allerdings nicht reichen, setzte ich es dem Blick meiner Mama als Eigenschaftswort davor.
Nicht interessanter, aber leichter zu beurteilen und darum aufschlußreicher sind die Gruppenfotos jener Zeit. Erstaunlich, um wieviel schöner und bräutlicher die Hochzeitskleider waren, als man den Vertrag zu Rapallo unterzeichnete. Matzerath trägt auf seinem Hochzeitsfoto noch einen steifen Kragen. Er sieht gut aus, elegant, fast intellektuell. Den rechten Fuß stellt er vor, möchte vielleicht einem Filmschauspieler seiner Tage, Harry Liedtke etwa, gleichen. Man trug damals kurz. Das bräutliche Kleid meiner bräutlichen Mama, ein weißer, tausendfältiger Plisseerock reicht bis knapp unters Knie, zeigt ihre gutgeformten Beine und zierlichen Tanzfüßchen in weißen Spangenschuhen.
Auf anderen Abzügen drängt die ganze Hochzeitsgesellschaft. Zwischen städtisch Gekleideten und Posierenden fallen immer wieder die Großmutter Anna und ihr begnadeter Bruder Vinzent durch provinzielle Strenge und Vertrauen einflößende Unsicherheit auf. Jan Bronski, der ja gleich meiner Mama vom selben Kartoffelacker herstammt wie seine Tante Anna und sein der himmlischen Jungfrau ergebener Vater, weiß ländlich kaschubische Herkunft hinter der festlichen Eleganz eines polnischen Postsekretärs zu verbergen. So klein und gefährdet er auch zwischen den Gesunden und Platzeinnehmenden stehen mag, sein ungewöhnliches Auge, die fast weibische Ebenmäßigkeit seines Gesichtes bilden, selbst wenn er am Rande steht, den Mittelpunkt jedes Fotos.
Schon längere Zeit betrachte ich eine Gruppe, die kurz nach der Hochzeit aufgenommen wurde. Ich muß zur Trommel greifen und mit meinen Stöcken vor dem matten, bräunlichen Viereck versuchen, das auf dem Karton erkennbare Dreigestirn auf gelacktem Blech zu beschwören.
Die Gelegenheit für dieses Bild wird sich Ecke Magdeburger Straße — Heeresanger neben dem polnischen Studentenheim, also in der Wohnung der Bronskis ergeben haben, denn es zeigt den Hintergrund eines sonnenbeschienenen, mit Kletterbohnen halb zugerankten Balkons solcher Machart, wie sie nur den Wohnungen der Polensiedlung vorklebten. Mama sitzt, Matzerath und Jan Bronski stehen. Aber wie sie sitzt und wie die beiden stehen! Eine Zeitlang war ich dumm genug, mit einem Schulzirkel, den Bruno mir kaufen mußte, mit Lineal und Dreieck die Konstellation dieses Triumvirates — denn Mama ersetzte vollwertig einen Mann — ausmessen zu wollen.
Halsneigungswinkel, ein Dreieck mit ungleichen Schenkeln, es kam zu Parallelverschiebungen, zur gewaltsam herbeigeführten Deckungsgleichheit, zu Zirkelschlägen, die sich bedeutungsvoll außerhalb, also im Grünzeug der Kletterbohnen trafen und einen Punkt ergaben, weil ich einen Punkt suchte, punktgläubig, punktsüchtig, Anhaltspunkt, Ausgangspunkt, wenn nicht sogar den Standpunkt erstrebte.
Nichts ist bei dieser dilettantischen Messerei herausgekommen, als winzige und dennoch störende Löcher, die ich mit der Zirkelspitze den wichtigsten Stellen dieses kostbaren Fotos grub. Was ist besonderes an dem Abzug? Was hieß mich, mathematische und, lächerlich genug, kosmische Bezüge auf diesem Viereck suchen und, wenn man will, sogar finden? Drei Menschen: eine sitzende Frau, zwei stehende Männer. Sie mit dunkler Wasserwelle, Matzeraths krauses Blond, Jans anliegendes, zurückgekämmtes Kastanienbraun. Alle drei lächeln: Matzerath mehr als Jan Bronski, beide die oberen Zähne zeigend, zusammen fünfmal so stark wie Mama, der es nur eine Spur in den Mundwinkeln und überhaupt nicht in den Augen sitzt. Matzerath läßt seine linke Hand auf Mamas rechter Schulter ruhen; Jan begnügt sich mit einer flüchtigen rechtshändigen Belastung der Stuhllehne.
Sie, mit den Knien nach rechts, von den Hüften ab frontal, hält ein Heft auf dem Schoß, das ich längere Zeit für eines der Bronskischen Briefmarkenalben, dann für eine Modezeitschrift, schließlich für die Zigarettenbildchensammlung berühmter Filmschauspieler hielt. Mamas Hände tun so, als wollten sie blättern, sobald die Platte belichtet, die Aufnahme gemacht ist. Alle drei scheinen glücklich, einander gutheißend gegen Überraschungen der Art gefeit zu sein, zu denen es nur kommt, wenn ein Partner des Dreibundes Geheimfächer anlegt oder von Anfang an birgt. Zusammengehörend sind sie auf die vierte Person, nämlich auf Jans Frau, Hedwig Bronski, geborene Lemke, die zu dem Zeitpunkt womöglich schon mit dem späteren Stephan schwanger ging, nur insofern angewiesen, als diese den Fotoapparat auf die drei und das Glück dieser drei Menschen richten muß, damit sich dreifaches Glück wenigstens mit den Mitteln der Fotografie festhalten läßt.
Ich habe andere Vierecke aus dem Album gelöst und neben dieses Viereck gehalten. Ansichten, auf denen entweder Mama mit Matzerath oder Mama mit Jan Bronski zu erkennen sind. Auf keinem dieser Bilder wird das Unabänderliche, die letztmögliche Lösung so deutlich wie auf dem Balkonbild.
Jan und Mama auf einer Platte: da riecht es nach Tragik, Goldgräberei und Verstiegenheit, die zum Überdruß wird, Überdruß der Verstiegenheit mit sich führt. Matzerath neben Mama: da tröpfelt Wochenendpotenz, da brutzeln die Wiener Schnitzel, da nörgelt es ein bißchen vor dem Essen und gähnt nach der Mahlzeit, da muß man sich vor dem Schlafengehen Witze erzählen oder die Steuerabrechnung an die Wand malen, damit die Ehe einen geistigen Hintergrund bekommt. Dennoch ziehe ich diese fotografierte Langeweile dem anstößigen Schnappschuß späterer Jahre vor, der Mama auf dem Schoß des Jan Bronski vor den Kulissen des Olivaer Waldes nahe Freudental zeigt. Erfaßt diese Unfläterei — Jan läßt eine Hand unter Mamas Kleid verschwinden — doch nur die blindwütige Leidenschaftdes unglücklichen, vom ersten Tage der Matzerath-Ehe an ehebrecherischen Paares, dem hier, wie ich vermute, Matzerath den abgestumpften Fotografen lieferte. Nichts wird von jener Gelassenheit, von den behutsam wissenden Gesten des Balkonbildes sichtbar, die sich wahrscheinlich nur dann ermöglichen ließen, wenn beide Männer sich hinter, neben Mama stellten oder ihr zu Füßen lagen, wie im Seesand der Badeanstalt Heubude; siehe Foto.