Die Blechtrommel (89 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Heute bin ich dreißig Jahre alt, habe Flucht und Prozeß zwar hinter mir, doch jene Furcht, die ich mir auf der Flucht einredete, ist geblieben.

Waren es die Schienenstöße, war es das Liedchen der Eisenbahn? Monoton kam der Text, fiel mir kurz vor Aachen auf, setzte sich in mir, der ich mich in den Polstern erster Klasse verlor, fest, blieb auch hinter Aachen — wir passierten etwa um halb elf die Grenze — deutlich und immer fürchterlicher, so daß ich froh war, als die Zollbeamten mich etwas ablenkten; die zeigten für meinen Buckel mehr Interesse als für meinen Namen, für meinen Paß — und ich sagte mir: dieser Vittlar, dieser Langschläfer! Jetzt ist es bald elf, und er hat immer noch nicht mit dem Weckglas unterm Arm zur Polizei gefunden, während ich mich seit frühester Morgenstunde seinetwegen auf der Flucht befinde, mir Furcht einrede, damit die Flucht auch einen Motor hat; oh wie fürchtete ich mich in Belgien, als die Eisenbahn sang: Ist die Schwarze Köchin da? Jajaja! Ist die Schwarze Köchin da?

Jajaja ...

Heute bin ich dreißig Jahre alt, soll jetzt durch die Wiederaufnahme des Prozesses, durch den zu erwartenden Freispruch zum Laufen gebracht, in Eisenbahnen, Straßenbahnen dem Text ausgesetzt werden: Ist die Schwarze Köchin da? Jajaja!

Dennoch und abgesehen von meiner Furcht vor einer Schwarzen Köchin, deren fürchterlichen Auftritt ich auf jeder Station erwartete, war die Fahrt schön. Ich blieb alleine in meinem Abteil — vielleicht saß sie im Nachbarabteil — lernte belgische, dann französische Zollbeamte kennen, schlief dann und wann fünf Minütchen, erwachte mit kleinem Aufschrei und blätterte, um der Schwarzen Köchin nicht allzu schutzlos ausgeliefert sein zu müssen, in der Wochenzeitschrift »Der Spiegel«, die ich mir noch in Düsseldorf durchs Abteilfenster hatte reichen lassen, verwunderte mich immer wieder über das umfangreiche Wissen der Journalisten, fand sogar eine Glosse über meinen Manager, den Dr. Dösch der Konzertagentur »West«, fand dort bestätigt, was ich wußte: Döschs Agentur besaß nur einen tragenden Pfeiler: Oskar den Trommler — recht gutes Foto von mir. Und so stellte sich der Pfeiler Oskar bis kurz vor Paris jenen Zusammenbruch der Konzertagentur »West« vor, den meine Verhaftung und der schreckliche Auftritt der Schwarzen Köchin verursachen mußten.

Ich habe mich mein Lebtag nicht vor der Schwarzen Köchin gefürchtet. Erst auf der Flucht, da ich mich fürchten wollte, kroch sie mir unter die Haut, verblieb dort, wenn auch zumeist schlafend, bis zum heutigen Tage, da ich meinen dreißigsten Geburtstag feiere, und nimmt verschiedene Gestalt an: So kann er das Wörtchen Goethe sein, das mich aufschreien und ängstlich unter die Bettdecke flüchten läßt. So sehr ich auch von Jugend an den Dichterfürsten studierte, seine olympische Ruhe ist mir schon immer unheimlich gewesen. Und wenn er heute verkleidet, schwarz und als Köchin, nicht mehr licht und klassisch, sondern die Finsternis eines Rasputin überbietend, vor meinem Gitterbett steht und mich anläßlich meines dreißigsten Geburtstages fragt: »Ist die Schwarze Köchin da?« fürchte ich mich sehr.

Jajaja! sagte die Eisenbahn, die den flüchtenden Oskar nach Paris trug. Eigentlich hatte ich die Beamten der internationalen Polizei schon auf dem Pariser Nordbahnhof — Gare du Nord, wie der Franzose sagt — erwartet. Doch nur ein Gepäckträger, der so vorherrschend nach Rotwein roch, daß ich ihn beim besten Willen nicht für die Schwarze Köchin halten konnte, sprach mich an, und ich gab ihm vertrauensvoll mein Köfferchen, ließ es bis kurz vor die Sperre tragen. Dachte ich mir doch, die Beamten und auch die Köchin werden die Kosten einer Bahnsteigkarte gescheut haben, werden dich hinter der Sperre ansprechen und verhaften. Du handelst also klug, wenn du dein Köfferchen noch vor der Sperre an dich nimmst. So mußte ich den Koffer alleine bis zur Metro schleppen, denn nicht einmal die Beamten waren da und nahmen mir das Gepäck ab.

Ich will Ihnen nichts über den weltbekannten Geruch der Metro erzählen. Dieses Parfüm kann man, wie ich neulich las, kaufen und sich anspritzen. Was mir auffiel, war, daß erstens die Metro gleich der Eisenbahn, wenn auch mit anderem Rhythmus, nach der Schwarzen Köchin fragte, daß zweitens allen Mitreisenden die Köchin gleich mir bekannt und fürchtenswert sein mußte, denn um mich herum atmeten alle Angst und Schrecken aus. Mein Plan war, mit der Metro bis zur Porte d'Italie zu fahren und von dort ein Taxi zum. Flugplatz Orly zu nehmen; stellte ich mir doch eine Verhaftung, wenn schon nicht auf dem Nordbahnhof, dann auf dem berühmten Flugplatz Orly — die Köchin als Stewardeß — besonders pikant und originell vor. Einmal mußte ich umsteigen, war froh über mein leichtes Köfferchen und ließ mich dann von der Metro in Richtung Süden entführen, überlegte: wo steigst du aus, Oskar — mein Gott, was alles an einem Tag passieren kann: heute früh leckte dich noch kurz hinter Gerresheim eine Kuh, furchtlos und fröhlich warst du, und jetzt bist du in Paris - wo wirst du aussteigen, wo wird sie dir schwarz und schrecklich entgegenkommen? Place d'Italie oder erst an der Porte?

Ich stieg eine Station vor der Porte, Maison Blanche, aus, weil ich mir dachte: die denken natürlich, ich denke, sie stehen an der Porte. Sie aber weiß, was ich, was die denken. Auch hatte ich es satt. Die Flucht und das mühsame Aufrechterhalten der Furcht ermüdeten mich. Nicht mehr zum Flugplatz wollte Oskar, fand Maison Blanche viel origineller als Flugplatz Orly, sollte-auch recht behalten; denn jene Metrostation verfügt über eine mechanische Rolltreppe, die mir zu einigen Hochgefühlen und zu jenem Rolltreppengeklapper verhelfen sollte: 1st die Schwarze Köchin da? Jajaja!

Oskar befindet sich in einiger Verlegenheit. Seine Flucht geht dem Ende entgegen, und mit der Flucht endet auch sein Bericht: wird die Rolltreppe der Metrostation Maison Blanche auch hoch, steil und sinnbildlich genug sein, um als Schlußbild seiner Aufzeichnungen zu rattern?

Doch da fällt mir mein heutiger dreißigster Geburtstag ein. Allen denjenigen, welchen die Rolltreppe zuviel Lärm macht, welchen die Schwarze Köchin keine Furcht einjagt, biete ich meinen dreißigsten Geburtstag als Schluß an. Denn ist nicht der dreißigste Geburtstag unter allen anderen Geburtstagen der eindeutigste? Die Drei hat er in sich, die Sechzig läßt er ahnen und macht sie überflüssig. Als heute früh die dreißig Kerzen rings um meinen Geburtstagskuchen brannten, hätte ich vor Freude und Hochgefühl weinen mögen, aber ich schämte mich vor Maria: mit dreißig Jahren darf man nicht mehr weinen.

- Sobald mich die erste Stufe der Rolltreppe - wenn man einer Rolltreppe eine erste Stufe nachsagen darf - mitnahm, verfiel ich dem Lachen. Trotz Furcht oder wegen der Furcht lachte ich. Steil ging es langsam hoch — und oben standen sie. Zeit fand sich noch für eine halbe Zigarette. Zwei Stufen über mir kalberte ein ungeniertes Liebespaar. Eine Stufe unter mir eine alte Frau, die ich anfangs grundlos als Schwarze Köchin verdächtigte. Einen Hut trug sie, dessen Dekorationen Früchte bedeuteten.

Während ich rauchte, fielen mir, ich gab mir Mühe, allerlei Bezüglichkeiten zur Rolltreppe ein: Da gab Oskar zuerst den Dichter Dante ab, der aus der Hölle zurückkehrt, und oben, wo die Rolltreppe endet, erwarteten ihn die fixen Spiegelreporter, fragen: »Na, Dante, wie war es unten?« - Dasselbe Spielchen machte ich als Dichterfürst Goethe, ließ mich von den Spiegelleuten fragen, wie ich es unten, bei den Müttern, gefunden habe. Schließlich war ich der Dichter müde, sagte mir, oben stehen weder die Leute vom »Spiegel« noch jene Herren mit den Metallmarken in den Manteltaschen, oben steht sie, die Köchin, die Rolltreppe rattert: Ist die Schwarze Köchin da? und Oskar antwortete:

»Jajaja!«

Neben der mechanischen Rolltreppe gab es noch eine normale Treppe. Die brachte Straßenpassanten zur Metrostation hinunter. Draußen schien es zu regnen. Die Leute sahen naß aus. Das beunruhigte mich, denn ich hatte in Düsseldorf keine Zeit mehr gefunden, mir einen Regenmantel zu kaufen. Ein Blick .nach oben jedoch, und Oskar sah, daß die Herren mit den unauffällig auffälligen Gesichtern zivile Regenschirme bei sich trugen — was dennoch nicht die Existenz der Schwarzen Köchin in Frage stellte.

Wie werde ich sie ansprechen? besorgte ich mich und genoß das langsame Rauchen einer Zigarette auf einer langsam Hochgefühle steigernden, die Erkenntnisse bereichernden mechanischen Rolltreppe: auf einer Rolltreppe verjüngt man sich, auf einer Rolltreppe wird man älter und älter. Es blieb mir die Wahl, als Dreijähriger oder als Sechzigjähriger die Rolltreppe zu verlassen, als Kleinkind oder als Greis der internationalen Polizei zu begegnen, in diesem oder in jenem Alter die Schwarze Köchin zu fürchten.

Es ist sicher schon spät. Mein Metallbett sieht so müde aus. Auch zeigte mein Pfleger Bruno schon zweimal sein besorgtes Braunauge im Guckloch. Da, unter dem Anemonenaquarell steht der unangeschnittene Kuchen mit den dreißig Kerzen. Womöglich schläft Maria jetzt schon. Jemand, ich glaube, Marias Schwester Guste, wünschte mir Glück für die nächsten dreißig Jahre. Maria hat einen beneidenswerten Schlaf. Was wünschte mir nur mein Sohn Kurt, der Gymnasiast, Musterschüler und Klassenbeste zum Geburtstag? Wenn Maria schläft, schlafen auch die Möbel um sie herum. Jetzt habe ich es: Kurtchen wünschte mir zu meinem dreißigsten Geburtstag gute Besserung! Ich jedoch wünsche mir eine Scheibe von Marias Schlaf, denn ich bin müde und habe kaum noch Worte. Klepps junge Frau hat ein albernes, aber gutgemeintes Geburtstagsgedichtchen auf meinen Buckel gemacht. Auch Prinz Eugen war verwachsen und nahm trotzdem Stadt und Festung Belgrad ein. Maria sollte endlich begreifen, daß ein Buckel Glück bringt. Auch Prinz Eugen hatte zwei Väter. Jetzt bin ich dreißig, aber mein Buckel ist jünger. Ludwig der Vierzehnte war der eine mutmaßliche Vater des Prinzen Eugen.

Früher berührten oft schöne Frauen meinen Buckel auf offener Straße, des Glückes wegen. Der Prinz Eugen war verwachsen und starb deshalb eines natürlichen Todes. Wenn Jesus einen Buckel gehabt hätte, hätten sie ihn schwerlich aufs Kreuz genagelt. Muß ich jetzt wirklich, nur weil ich dreißig Jahre zähle, hinausgehen in alle Welt und Jünger um mich sammeln?

Dabei war es nur ein Rolltreppeneinfall! Höher und höher trug es mich. Vor und über mir das ungenierte Liebespaar. Hinter und unter mir die alte Frau mit dem Hut. Draußen regnete es, und oben, ganz oben standen die Herren von der internationalen Polizei. Lattenroste belegten die Rolltreppenstufen. Wenn man auf einer Rolltreppe steht, soll man noch einmal alles überlegen: Wo kommst duher? Wo gehst du hin? Wer bist du? Wie heißt du? Was willst du? Gerüche flogen midi an: Die Vanille der jungen Maria. Das Öl der Ölsardinen, das meine arme Mama wärmte, heiß trank, bis sie kalt wurde und unter die Erde kam. Jan Bronski, der immer Kölnisch Wasser verschwendete, und dennoch atmete ihm der frühe Tod durch alle Knopflöcher. Nach Winterkartoffeln roch es im Lagerkek ler des Gemüsehändlers Greff. Noch einmal der Geruch der trockenen Schwämme an den Schiefertafeln der Erstklässler. Und meine Roswitha, die nach Zimmet und Muskat duftete. Auf einer Karbolwolke schwamm ich, als Herr Fajngold seine Desinfektionsmittel über meinem Fieber zerstäubte. Ach, und der Katholizismus der Herz-Jesu-Kirche, diese vielen unausgelüfteten Kleider, der kalte Staub, und ich vor dem linken Seitenaltar verlieh meine Trommel, an wen?

Dennoch war es nur ein Rolltreppeneinfall. Heute will man mich festnageln, sagt: Du bist dreißig.

Folglich mußt du Jünger sammeln. Denk mal zurück, was du sagtest, als man dich verhaftete. Zähle die Kerzen um deinen Geburtstagskuchen, verlasse dein Bett und sammle Jünger. Dabei bieten sich einem Dreißigjährigen so viele Möglichkeiten. So könnte ich, zum Beispiel, falls man mich wirklich aus der Anstalt vertreibt, Maria einen zweiten Heiratsantrag machen. Entschieden mehr Chancen hätte ich heute. Oskar hat ihr das Geschäft eingerichtet, ist bekannt, verdient weiterhin gut mit seinen Schallplatten, ist inzwischen reifer, älter geworden. Mit dreißig sollte man heiraten! Oder aber, ich bleibe ledig, wähle mir einen meiner Berufe, kaufe einen guten Muschelkalkbruch, stelle Steinmetze ein, arbeite direkt, frisch vom Bruch für den Bau. Mit dreißig sollte man eine Existenz gründen! Oder aber — falls mich die vorfabrizierten Fassadenstücke auf die Dauer anöden — ich suche die Muse Ulla auf, diene mit ihr und an ihrer Seite den schönen Künsten als anregendes Modell. Womöglich eheliche ich sie sogar eines Tages, die so oft und kurzfristig verlobte Muse. Mit dreißig sollte man heiraten! Oder aber, falls ich europamüde werde, wandere ich aus, Amerika, Buffalo, mein alter Traum: ich suche meinen Großvater, den Millionär und ehemaligen Brandstifter Joe Colchic, vormals Joseph Koljaiczek. Mit dreißig sollte man seßhaft werden! Oder aber, ich gebe nach, lasse mich festnageln, gehe hinaus, nur weil ich dreißig bin, und mime ihnen den Messias, den sie in mir sehen, mache, gegen besseres Wissen, aus meiner Trommel mehr, als die darzustellen vermag, laß die Trommel zum Symbol werden, gründe eine Sekte, Partei oder auch nur eine Loge.

Trotz Liebespaar über mir und Frau mit Hut unter mir, überfiel mich dieser Rolltreppeneinfall. Sagte ich schon, daß das Liebespaar zwei Stufen, nicht eine Stufe über mir stand, daß ich zwischen mich und das Liebespaar meinen Koffer stellte? Die jungen Leute in Frankreich sind höchst sonderbar. So knöpfte sie ihm, während uns alle die Rolltreppe hinauftrug, die Lederjacke, dann das Hemd auf und hantierte seine nackte achtzehnjährige Haut. Das tat sie aber so geschäftig und mit solch praktischen, völlig unerotischen Bewegungen, daß mir schon der Verdacht kam: die jungen Leute lassen sich von offizieller Seite bezahlen, demonstrieren auf offener Straße die Liebestollheit, damit Frankreichs Metropole nicht ihren Ruf verliert. Als das Paar sich jedoch küßte, verlor sich mein Verdacht: fast erstickte er an ihrer Zunge, litt immer noch unter einem Hustenanfall, als ich schon meine Zigarette ausknipste, um den Kriminalbeamten als Nichtraucher begegnen zu können. Die alte Frau unter mir und ihrem Hut — das heißt der Hut hielt sich in meiner Kopfhöhe, weil meine Körpergröße den Höhenunterschied der beiden Rolltreppenstufen ausglich — tat nichts Auffallendes, wenn sie auch ein bißchen murmelte, vor sich hin schimpfte; aber das tun schließlich viele alte Leute in Paris. Das gummibelegte Geländer der Rolltreppe fuhr mit uns hinauf. Man konnte die Hand drauflegen und die Hand mitfahren lassen. Das hätte ich auch getan, wenn ich Handschuhe auf die Reise mitgenommen hätte. Die Kacheln des Treppenhauses spiegelten alle ein Tröpfchen elektrisches Licht. Rohre und dickleibige Kabelbündel begleiteten cremefarben unsere Auffahrt. Nicht etwa, daß die Rolltreppe einen Höllenlärm machte. Eher gemütlich gab sie sich, trotz ihrer mechanischen Natur.

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