Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (40 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Für Oskar wurde ein blauer Badeanzug mit draufgenähtem Anker gekauft. Maria hatte schon einen grünen mit roten Rändern, den ihr die Schwester Guste zur Einsegnung geschenkt hatte. In eine Badetasche aus Mamas Zeiten wurde ein weißer flauschiger Bademantel, den gleichfalls Mama hinterlassen hatte, gestopft, dazu kamen überflüssigerweise ein Eimerchen, ein Schäufelchen und diverse Sandkuchenförmchen. Maria trug die Tasche. Meine Trommel trug ich selbst.

Oskar hatte Angst vor der Straßenbahnfahrt am Friedhof Saspe vorbei. Mußte er nicht befürchten, daß ihm der Anblick des so stillen und dennoch beredten Ortes die ohnehin nicht übermäßige Badelaune verschlüge? Wie wird sich der Geist Jan Bronskis verhalten, fragte sich Oskar, wenn leicht sommerlich gekleidet sein Verderber in einer Straßenbahn nahe seinem Grabe vorbeiklingelt?

Die Linie Neun hielt. Der Schaffner rief die Station Saspe aus. Ich blickte angestrengt an Maria vorbei in Richtung Brösen, von wo her die Gegenbahn, langsam größer werdend, herankroch. Nur nicht den Blick abschweifen lassen! Was gab es dort schon zu sehen! Kümmerliche Strandkiefern, verschnörkelte Rostgitter, ein Durcheinander von haltlosen Grabsteinen, deren Inschriften nur noch Stranddisteln und tauber Hafer lesen mochten. Dann lieber den Blick aus dem offenen Fenster raus und hochgerissen: da brummten sie, die dicken Ju 52, wie eben nur dreimotorige Flugzeuge oder ganz fette Fliegen am wolkenlosen Julihimmel brummen können.

Klingelnd fuhren wir an und ließen uns von der Gegenbahn die Sicht versperren. Gleich hinter dem Anhänger verdrehte es mir den Kopf: den ganzen verfallenen Friedhof bekam ich mit, auch ein Stück der Nordmauer, deren auffallend weiße Stelle zwar im Schatten lag, aber dennoch höchst peinlich . . .

Und dann war die Stelle fort, wir näherten uns Brösen, und ich blickte wieder Maria an. Sie füllte ein leichtes geblümtes Sommerkleid. Um ihren runden, matt glänzenden Hals, über gutgepolstertem Schlüsselbein reihte sich eine Kette aus altroten Holzkirschen, die alle gleich groß waren und platzvoll Reife vortäuschten. Ahnte ich es nur oder roch ich es wirklich? Oskar beugte sich leicht — Maria nahm ihren Vanillegeruch an die Ostsee mit — atmete das Aroma tief ein und hatte den modernden Jan Bronski augenblicklich überwunden. Es war die Verteidigung der Polnischen Post schon historisch geworden, ehe den Verteidigern das Fleisch von den Knochen gefallen war. Oskar, der Überlebende, hatte ganz andere Gerüche in der Nase als etwa die, die sein einst so eleganter, nun mürber mutmaßlicher Vater an sich haben mochte.

In Brösen kaufte Maria ein Pfund Kirschen, nahm mich bei der Hand — sie wußte, daß Oskar nur ihr das erlaubte — und führte uns durch den Strandkiefernwald zur Badeanstalt. Trotz meiner fast sechzehn Jahre — der Bademeister hatte keinen Blick dafür — durfte ich in die Damenabteilung.

Wasser: achtzehn; Luft: sechsundzwanzig; Wind: Ost — weiterhin heiter, stand an der schwarzen Tafel neben dem Anschlag der Lebensrettungsgesellschaft, die Vorschläge für Wiederbelebungsversuche neben linkischen, altmodischen Zeichnungen ausbreitete. Es hatten die Ertrunkenen alle gestreifte Badeanzüge an, die Retter trugen Schnurrbärte, Strohhüte schwammen auf tückisch gefährlichem Wasser.

Das barfüßige Bademädchen ging voran. Wie eine Büßerin trug sie den Strick um den Leib, und an dem Strick hing ein mächtiger Schlüssel, der alle Zellen aufschloß. Laufstege. Das Geländer an den Stegen. Ein dürrer Kokosläufer an allen Zellen vorbei. Wir bekamen Zelle 53. Das Holz der Zelle warm, trocken, von einer natürlich weißbläulichen Farbe, die ich blind nennen möchte. Ein Spiegel neben dem Zellenfenster, der sich selbst nicht mehr ernst nahm.

Zuerst mußte Oskar sich ausziehen. Ich tat das mit dem Gesicht zur Wand und ließ mir nur widerwillig dabei helfen. Dann drehte mich Maria mit ihrem praktisch handfesten Griff, hielt mir den neuen Badeanzug hin und zwängte mich, ohne Rücksicht zu nehmen, in die enganliegende Wolle. Kaum hatte sie mir die Träger geknöpft, hob sie mich auf die Holzbank vor der Rückwand der Zelle, drückte mir Trommel und Stöcke auf die Schenkel und begann sich mit raschen, kräftigen Bewegungen zu entkleiden.

Zuerst trommelte ich ein bißchen, zählte auch die Astlöcher in den Fußbodenbrettern. Dann ließ ich das Zählen und das Trommeln. Unbegreiflich blieb mir, warum Maria mit komisch geschürzten Lippen geradeaus vor sich hin pfiff, während sie aus den Schuhen stieg, zwei Töne hoch, tief pfiff, die Söckchen abstreifte, wie ein Bierkutscher pfiff, den geblümten Stoff von sich nahm, pfeifend den Unterrock über das Kleid hängte, den Büstenhalter von sich abfallen ließ und immer noch, ohne eine Melodie zu finden, angestrengt pfiff, als sie die Schlüpfer, die eigentlich Turnhosen waren, bis zu den Knien herunterzog, auf die Füße rutschen ließ, ausstieg aus den gerollten Hosenbeinen und mit linkem Fuß den Stoff in die Ecke wischte.Maria erschreckte Oskar mit ihrem behaarten Dreieck. Zwar wußte er von seiner armen Mama her, daß Frauen unten nicht kahl sind, aber Maria war ihm in jenem Sinne nicht Frau, in dem sich seine Mama einem Matzerath oder Jan Bronski gegenüber als Frau bewiesen hatte.

Und nun erkannte ich sie sofort. Wut, Scham, Empörung, Enttäuschung und eine halb komisch, halb schmerzhaft beginnende Versteifung meines Gießkännchens unter dem Badeanzug ließen mich Trommel und beide Trommelstöcke um des einen, mir neu gewachsenen Stockes willen vergessen.

Oskar sprang auf, warf sich Maria zu. Die fing ihn auf mit ihren Haaren. Er ließ sich das Gesicht zuwachsen. Zwischen die Lippen wuchs es ihm. Maria lachte und wollte ihn wegziehen. Ich aber zog immer mehr von ihr in mich hinein, kam dem Vanillegeruch auf die Spur. Maria lachte immer noch.

Sie ließ mich sogar bei ihrer Vanille, das schien ihr Spaß zu machen, denn das Lachen gab sie nicht auf. Erst als mir die Beine wegrutschten und ihr mein Wegrutschen Schmerzen bereitete — denn die Haare ließ ich nicht los oder die ließen mich nicht — erst als mir die Vanille Tränen in die Augen preßte, als ich schon Pfifferlinge oder sonst was Strenges, nur keine Vanille mehr schmeckte, als dieser Erdgeruch, den Maria hinter der Vanille verbarg, mir den modernden Jan Bronski auf die Stirn nagelte und mich für alle Zeiten mit dem Geschmack der Vergänglichkeit verseuchte, da ließ ich los.

Oskar glitt auf die blindfarbenen Bretter der Badezelle und weinte immer noch, als ihn Maria, die schon wieder lachte, hob, auf den Arm nahm, streichelte und gegen jene Holzkirschenkette drückte, die sie als einziges Kleidungsstück anbehalten hatte.

Kopfschüttelnd sammelte sie ihre Haare von meinen Lippen und verwunderte sich: »Du best mir so ain Schlingelchen! Jehst da ran und waißt nich, was is, und nachher weinste.«

BRAUSEPULVER

Ist Ihnen das ein Begriff? Früher war es zu jeder Jahreszeit in flachen Tüten erhältlich. Meine Mama verkaufte in unserem Laden ein zum Erbrechen grünes Tütchen Waldmeisterbrausepulver. Ein Tütchen, dem nicht ganz reife Orangen die Farbe geliehen hatten, nannte sich: Brausepulver mit Apfelsinengeschmack. Ferner gab es Brausepulver mit Himbeergeschmack, auch Brausepulver, das, wenn man es mit klarem Leitungswasser übergoß, zischte, sprudelte, aufgeregt tat, das, wenn man's trank, bevor es sich beruhigte, entfernt, von weit her nach Zitrone schmeckte, und auch die Farbe im Glas hatte, nur etwas eifriger noch: ein sich als Gift aufspielendes, künstliches Gelb.

Was stand außer der Geschmacksrichtung weiter auf den Tütchen? Es stand da: Naturprodukt — Gesetzlich geschützt — Vor Nässe zu bewahren — und unterhalb einer gepunkteten Linie stand: Hier reißen.

Wo konnte man das Brausepulver sonst noch kaufen? .Nicht nur im Laden meiner Mama, in jedem Kolonialwarengeschäft — nur nicht bei Kaisers-Kaffee und in den Konsumläden — konnte man das oben beschriebene Pülverchen kaufen. Dort und in allen Erfrischungsbuden kostete das Tütchen Brausepulver drei Guldenpfennige.

Maria und ich bekamen das Brausepulver gratis. Nur wenn wir nicht warten konnten, bis wir zu Hause waren, mußten wir in Kolonialwarenhandlungen oder vor Erfrischungsbuden drei Pfennige zahlen oder gar sechs, weil wir nicht genug bekommen konnten und zwei flache Tütchen verlangten.

Wer fing an mit dem Brausepulver? Die alte Streitfrage zwischen Liebenden. Ich sage, Maria fing an.

Maria hat nie behauptet, Oskar habe angefangen. Sie ließ diese Frage offen und hätte, peinlich befragt, allenfalls zur Antwort gegeben: »Das Brausepulver hat angefangen.«

Natürlich wird jedermann Maria recht geben. Nur Oskar konnte sich mit diesem Schuldspruch nicht bescheiden. Nie hätte ich mir eingestehen mögen: Ein Tütchen Brausepulver zu drei Pfennigen Ladenpreis vermochte Oskar zu verführen. Ich war damals sechzehn Jahre alt und legte Wert darauf, mich selbst, allenfalls Maria, aber niemals ein vor Nässe zu schützendes Brausepulver schuldig zu sprechen.

Es begann wenige Tage nach meinem Geburtstag. Die Badesaison ging dem Kalender nach zu Ende.

Das Wetter jedoch wollte noch nichts vom September wissen. Nach einem verregneten August zeigte der Sommer, was er konnte; es ließen sich seine nachträglichen Leistungen auf der Tafel neben dem Anschlag der Lebensrettungsgesellschaft, den man der Bademeisterkajüte angenagelt hatte, ablesen: Luft 29 — Wasser 20 — Wind Südost — vorwiegend heiter.

Während Fritz Truczinski als Luftwaffen-Obergefreiter Postkarten aus Paris, Kopenhagen, Oslo und Brüssel schrieb — der Kerl war immer auf Dienstreisen — kamen Maria und ich zu einiger Sonnenbräune. Im Juli hatten wir unser Stammplätzchen vor der Sonnenwand des Familienbades. Da Maria dort vor den ungeschickten Scherzen der rotbehosten Sekundaner des Conradinums und vor den langweilig umständlichen Liebeserklärungen eines Obersekundaners der Petri-Oberschule nicht sicher war, gaben wir Mitte August das Familienbad auf und fanden im Damenbad ein weit ruhigeres Plätzchen, nahe dem Wasser, wo sich dicke, gleich den kurzen Ostseewellen kurzatmig schnaufende Damen bis zu den Krampfadern der Kniekehlen in den Fluten ergingen, wo Kleinkinder nackt und unerzogen gegen das Schicksal ankämpften; das heißt, sie kleckerten Sandburgen, die immer wieder zusammenfielen.Das Damenbad: wenn Frauen unter sich sind, sich unbeobachtet glauben, sollte ein Jüngling, wie ihn Oskar damals in sich zu verbergen wußte, die Augen schließen und sich nicht zum unfreiwilligen Zeugen ungenierten Frauentums machen lassen.

Wir lagen im Sand. Maria im grünen, rotumbordeten Badeanzug, ich hatte mir meinen blauen angepaßt. Der Sand schlief, die See schlief, die Muscheln waren zertreten und hörten nicht zu.

Bernstein, der angeblich wachhält, gab es woanders, der Wind, der der Wettertafel nach aus Südost kam, schlief langsam ein, der ganze weite, sicher überanstrengte Himmel hörte nicht mehr auf mit dem Gähnen; auch Maria und ich waren etwas müde. Gebadet hatten wir schon, hatten nach dem Baden, nicht etwa vor dem Baden gegessen. Nun lagen die Kirschen als noch feuchte Kirschkerne neben schon weißtrockenen, leichten Kirschkernen vom Vorjahr im Seesand.

Oskar ließ beim Anblick von soviel Vergänglichkeit den Sand mit den einjährigen, tausendjährigen und noch blutjungen Kirschkernen auf seine Trommel rieseln, machte also die Sanduhr und versuchte, sich in die Rolle des Todes hineinzudenken, indem er mit Knochen spielte. Unter Marias warmem, verschlafenem Fleisch stellte ich mir Teile ihres sicher hellwachen Gerippes vor, genoß den Durchblick zwischen Elle und Speiche, ließ an ihrer Wirbelsäule Abzählspiele auf und ab klettern, griff hinein durch beide Hüftbeinlöcher und amüsierte mich über den Schwertfortsatz.

Aller Kurzweil zum Trotz, die ich mir als Tod mit der Seesanduhr angedeihen ließ, bewegte sich Maria. Sie griff blind, sich nur auf die Finger verlassend, in die Strandtasche und suchte etwas, während ich den restlichen Sand mit den letzten Kirschkernen der schon halb versandeten Trommel zukommen ließ. Da Maria das, was sie suchte, wahrscheinlich ihre Mundharmonika, nicht fand, stülpte sie die Tasche um: gleich darauf lag auf dem Badelaken keine Mundharmonika, aber ein Tütchen Waldmeisterbrausepulver.

Maria tat überrascht. Vielleicht war sie auch überrascht. Ich war wirklich überrascht und sagte mir immer wieder, sag es noch heute: Wie ist das Tütchen Brausepulver, dieses billige Zeug, das sich nur die Kinder der Arbeitslosen und Stauer kauften, weil die kein Geld für ordentliche Limonade hatten, wie ist dieser Ladenhüter in unsere Strandtasche gekommen?

Während Oskar noch überlegte, bekam Maria Durst. Auch ich mußte mir gegen meinen Willen, meine Überlegungen unterbrechend, aufdringlichen Durst eingestehen. Wir hatten keinen Becher, auch mußte man bis zum Trinkwasser wenigstens fünfunddreißig Schritte machen, wenn Maria ging; an die fünfzig, wenn ich mich auf den Weg machte. Zwischen niveaölglänzenden, auf dem Rücken oder auf dem Bauch liegenden Fleischbergen hieß es den heißesten Sand erleiden, wenn man vorhatte, beim Bademeister einen Becher zu leihen und den Leitungshahn neben der Bademeisterkajüte aufzudrehen.

Wir scheuten beide den Weg und ließen das Tütchen auf dem Badelaken liegen. Schließlich nahm ich es, bevor Maria es nehmen wollte. Doch Oskar legte es wieder aufs Laken, damit Maria zugreifen konnte. Maria griff nicht. So griff ich und gab es Maria. Maria gab es Oskar zurück. Ich dankte und schenkte es ihr. Sie aber wollte von Oskar keine Geschenke annehmen. Ich mußte es wieder aufs Laken legen. Dort lag es längere Zeit, ohne sich zu rühren.

Oskar stellt fest, daß Maria es war, die das Tütchen nach beklemmender Pause an sich nahm. Doch nicht genug: sie riß einen Streifen Papier genau dort ab, wo unter gepunkteter Linie stand: Hier reißen!

Dann hielt sie mir das geöffnete Tütchen hin. Dieses Mal lehnte Oskar dankend ab. Es gelang Maria, beleidigt zu sein. Sie legte mit aller Entschlossenheit das offene Tütchen aufs Laken. Was blieb mir übrig, als nun meinerseits, bevor etwa Seesand ins Tütchen finden konnte, zuzugreifen und Maria das Tütchen anzubieten. Oskar stellt fest, daß Maria es war, die einen Finger in der Tütenöffnung verschwinden ließ, die den Finger wieder hervorlockte, ihn senkrecht und zur Ansicht hielt: es zeigte sich auf der Fingerkuppe etwas Weißbläuliches, das Brausepulver. Sie bot mir den Finger an.

Natürlich nahm ich ihn. Obgleich es mir in die Nase stieg, gelang es meinem Gesicht, Wohlgeschmack widerzuspiegeln. Es war Maria, die eine hohle Hand machte. Und Oskar konnte nicht umhin, ihr etwas Brausepulver in die rosa Schüssel zu streuen. Sie wußte nicht, was sie mit dem Häufchen anfangen sollte. Der Hügel in ihrem Handteller war ihr zu neu und zu erstaunlich. Da beugte ich mich vor, nahm all meinen Speichel zusammen, ließ ihn dem Brausepulver zukommen, tat das noch einmal und lehnte mich erst zurück, als ich keinen Speichel mehr hatte.

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