Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (26 page)

BOOK: Die Blechtrommel
4.27Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads

»Meine Mama ist gestorben«, versuchte ich mich zu erklären. »Das hätte sie nicht tun dürfen. Ich nehme ihr das übel. Da reden die Leute immer: Eine Mutter merkt alles, fühlt alles, eine Mutter verzeiht alles. Muttertagssprüche sind das! Einen Gnom hat sie in mir gesehen. Abgetan hätte sie den Gnom, wenn sie nur gekonnt hätte. Konnte mich aber nicht abtun, weil Kinder, selbst Gnome, in den Papieren vermerkt sind und nicht einfach abgetan werden können. Auch weil ich ihr Gnom war, weil sie, wenn sie mich abgetan hätte, sich selbst abgetan und verhindert hätte. Entweder ich oder der Gnom, hat sie sich gefragt, hat dann mit sich Schluß gemacht, hat nur noch Fisch gegessen und nicht mal frischen Fisch, hat ihre Liebhaber verabschiedet und jetzt, da sie auf Brenntau liegt, sagen alle, die Liebhaber und die Kunden im Geschäft: Der Gnom hat sie ins Grab getrommelt. Wegen Oskarchen wollte sie nicht mehr weiterleben, er hat sie umgebracht!«

Ich übertrieb reichlich, wollte womöglich Signora Roswitha beeindrucken. Es gaben schließlich die meisten Leute Matzerath und besonders Jan Bronski die Schuld an Mamas Tod. Bebra durchschaute mich.

»Sie übertreiben, mein Bester. Aus purer Eifersucht grollen Sie Ihrer toten Mama. Weil sie nicht Ihretwegen, vielmehr der anstrengenden Liebhaber wegen ins Grab ging, fühlen Sie sich zurückgesetzt. Böse und eitel sind Sie, wie es sich nun einmal für ein Genie gehört!«

Dann, nach einem Seufzer und seitlichen Blick auf die Signora Roswitha: »Es ist nicht leicht, in unserer Größe auszuharren. Human bleiben ohne äußeres Wachstum, welch eine Aufgabe, welch ein Beruf!«

Roswitha Raguna, die neapolitanische Somnambule mit der gleichviel glatten wie zerknitterten Haut, sie, die ich auf achtzehn Lenze schätzte, nach dem nächsten Atemzug als achtzig-, womöglich neunzigjährige Greisin bewunderte, Signora Roswitha streichelte den eleganten, englisch zugeschnittenen Maßanzug des Herrn Bebra, schickte dann mir ihre kirschschwarzen Mittelmeeraugen, hatte eine dunkle Früchte versprechende Stimme, die mich bewegte und erstarren ließ: »Carissimo, Oskarnello! Wie versteh ich ihn, den Schmerz! Andiamo, kommen Sie mit uns: Milano, Parigi, Toledo, Guatemala!«

Ein Schwindel wollte mich überfallen. Die blutjunge uralte Hand der Raguna ergriff ich. Es schlug das Mittelmeer an meine Küste, Olivenbäume flüsterten mir ins Ohr: »Roswitha wird wie Ihre Mama sein, verstehen wird Roswitha. Sie, die große Somnambule, die alle durchschaut, erkennt, nur sich selbst nicht, mammamia, nur sich selbst nicht, Dio!«

Merkwürdigerweise entzog mir die Raguna plötzlich und schreckhaft die Hand, kaum daß sie angefangen hatte, mich zu durchschauen und mit somnambulem Blick zu durchleuchten. Hatte mein vierzehnjähriges, hungriges Herz sie entsetzt? War ihr aufgegangen, daß Roswitha, ob Mädchen oder Greisin, für mich Roswitha bedeutete? Neapolitanisch flüsterte sie, zitterte, bekreuzigte sich so oft, als hörten die Schrecken, die sie mir ablas, nicht mehr auf, verschwand dann wortlos hinter ihrem Fächer.

Verwirrt verlangte ich Aufklärung, bat den Herrn Bebra um ein Wort. Doch selbst Bebra hatte trotz direkter Abstammung vom Prinzen Eugen die Fassung verloren, stammelte, und endlich verstand ich:

»Ihr Genie, junger Freund, das Göttliche, aber auch das ganz gewiß Teuflische Ihres Genies haben meine gute Roswitha etwas verwirrt, und auch ich muß gestehen, daß eine Ihnen eigene, jäh ausbrechende Maßlosigkeit mir fremd, wenn auch nicht ganz unverständlich ist. Doch einerlei«, Bebra raffte sich auf, »wie Ihr Charakter auch beschaffen sein mag, kommen Sie mit uns, treten Sie auf in Bebras Mirakelschau. Bei einiger Selbstzucht und Beschränkung sollte es Ihnen möglich sein, selbst bei den heutzutage herrschenden politischen Verhältnissen ein Publikum zu finden.«Ich begriff sofort.

Bebra, der mir geraten hatte, immer auf Tribünen, niemals vor Tribünen zu stehen, war selbst unters Fußvolk geraten, auch wenn er weiterhin im Zirkus auftrat. So war er auch gar nicht enttäuscht, als ich sein Angebot höflich bedauernd ablehnte. Und Signora Roswitha atmete hörbar hinter dem Fächer auf und zeigte mir wieder ihre Mittelmeeraugen.

Wir plauderten noch ein Stündchen, ich ließ mir vom Kellner ein leeres Wasserglas bringen, sang den Ausschnitt eines Herzens in das Glas, sang schnörklig gravierend rundlaufend eine Inschrift darunter:

»Oskar für Roswitha«, schenkte ihr das Glas, bereitete ihr Freude, und Bebra zahlte, gab reichlich Trinkgeld, ehe wir gingen.

Bis zur Sporthalle begleiteten mich die beiden. Ich wies mit dem Trommelstock auf die nackte Tribüne am anderen Ende der Maiwiese und — jetzt erinnere ich mich, es war im Frühjahr achtunddreißig — erzählte meinem Meister Bebra von meiner Laufbahn als Trommler unter Tribünen.

Bebra lächelte verlegen, die Raguna zeigte ein strenges Gesicht. Und als die Signora einige Schritte abseits stand, flüsterte mir Bebra Abschied nehmend ins Ohr: »Ich habe versagt, lieber Freund, wie könnte ich weiterhin Ihr Lehrer sein. Oh, diese schmutzige Politik!«

Dann küßte er mich wie vor Jahren, als ich ihm zwischen den Wohnwagen des Zirkus begegnet war, auf die Stirn, die Dame Roswitha reichte mir eine Hand wie Porzellan, und ich beugte mich manierlich, für einen Vierzehnjährigen fast zu routiniert, über die Finger der Somnambulen.

»Wir sehen uns wieder, mein Sohn!« winkte Herr Bebra, »wie auch die Zeiten sein mögen, Leute wie wir gehen sich nicht verloren.«

»Verzeihen Sie Ihren Vätern!« ermahnte mich die Signora, »gewöhnen Sie sich an Ihre eigene Existenz, damit das Herz Ruhe bekommt und Satan Mißvergnügen!«

Es war mir, als hätte mich die Signora noch einmal, doch abermals vergeblich getauft. Weiche Satan — aber Satan wich nicht. Ich sah den beiden traurig und mit leerem Herzen nach, winkte, als sie in ein Taxi stiegen, dort gänzlich verschwanden; denn der Ford war für Erwachsene gebaut, sah leer aus und auf der Suche nach Kundschaft, als er mit meinen Freunden davonbrauste.

Zwar versuchte ich, Matzerath zu einem Besuch des Zirkus Krone zu bewegen, aber Matzerath war nicht zu bewegen, ganz gab er sich der Trauer um meine arme Mama hin, die er eigentlich nie ganz besessen hatte. Aber wer hatte Mama ganz besessen? Selbst Jan Bronski nicht, allenfalls ich, denn Oskar litt am meisten unter ihrer Abwesenheit, die seinen Alltag störte, sogar in Frage stellte. Mama hatte mich reingelegt. Von meinen Vätern war nichts zu erwarten. Meister Bebra hatte im Propagandaminister Goebbels seinen Meister gefunden. Gretchen Scheffler ging ganz im Winterhilfswerk auf. Keiner soll hungern, keiner soll frieren, hieß es. Ich hielt mich an meine Trommel und vereinsamte gänzlich auf dünngetrommeltem, ehemals weißem Blech. Am Abend saßen Matzerath und ich uns gegenüber. Er blätterte in seinen Kochbüchern, ich klagte auf meinem Instrument. Manchmal weinte Matzerath und barg seinen Kopf in den Kochbüchern. Jan Bronski kam immer seltener ins Haus. Die Politik in Betracht ziehend, waren beide Männer der Meinung, man müsse vorsichtig sein, man wisse nicht, wie der Hase laufe. So wurden Skatrunden mit wechselnden dritten Männern immer seltener und wenn, dann nur zu später Stunde, alle politischen Gespräche vermeidend, in unserem Wohnzimmer unter der Hängelampe veranstaltet. Meine Großmutter Anna schien den Weg aus Bissau zu uns in den Labesweg nicht mehr zu finden. Sie grollte Matzerath, vielleicht auch mir, hatte ich sie doch sagen hören: »Maine Agnes, die starb, wail se das Jetrommel nich ma hält vertragen megen.«

Wenn schon schuldig am Tod meiner armen Mama, klammerte ich mich dennoch um so fester an die geschmähte Trommel; denn die starb nicht, wie eine Mutter stirbt, die konnte man neu kaufen, vom alten Heilandt oder vom Uhrmacher Laubschad reparieren lassen, die verstand mich, gab immer die richtige Antwort, die hielt sich an mich, wie ich mich an sie hielt.

Wenn mir die Wohnung damals zu eng wurde, die Straßen zu kurz oder zu lang für meine vierzehn Jahre, wenn tagsüber sich keine Gelegenheit bot, den Versucher vor Schaufenstern zu spielen und am Abend die Versuchung nicht vordringlich genug sein wollte, um in dunklen Hauseingängen einen glaubwürdigen Versucher abgeben zu können, stampfte ich taktgebend die vier Treppen hoch, zählte hundertsechzehn Stufen, verhielt in jeder Etage, nahm die Gerüche wahr, die durch die jeweils fünf Wohnungstüren aller Stockwerke drangen, weil es den Gerüchen, gleich mir, in den Zweizimmerwohnungen zu eng wurde.

Anfangs hatte ich noch dann und wann Glück mit dem Trompeter Meyn. Betrunken und auf dem Trockenboden zwischen den Bettlaken liegend, konnte er unerhört musikalisch in seine Trompete hauchen und meiner Trommel Vergnügen bereiten. Im Mai achtunddreißig gab er den Machandel auf, verriet allen Leuten: »Jetzt fängt ein neues Leben an!« Er wurde Mitglied im Musikkorps der Reiter-SA. Gestiefelt und mit geledertem Gesäß, stocknüchtern sah ich ihn fortan auf der Treppe fünf Stufen auf einmal nehmen. Seine vier Katzen, deren eine Bismarck hieß, hielt er sich noch, weil, wie man annehmen konnte, dann und wann dennoch der Machandel siegte und ihn musikalisch machte.

Selten klopfte ich beim Uhrmacher Laubschad an, einem stillen Mann zwischen hundert lärmenden Uhren. Solch übertriebenen Verschleiß der Zeit konnte ich mir allenfalls einmal im Monat leisten.Der alte Heilandt hatte noch immer seinen Kabuff auf dem Hof des Miethauses. Immer noch klopfte er krumme Nägel gerade. Auch gab es Kaninchen und Kaninchen von Kaninchen wie in alten Zeiten.

Aber die Gören auf dem Hof waren andere. Die trugen jetzt Uniformen und schwarze Schlipse, kochten keine Ziegelmehlsuppen mehr. Was da heranwuchs, mich überragte, kannte ich kaum beim Namen. Das war eine andere Generation, und meine Generation hatte die Schule hinter sich, steckte in der Lehre: Nuchi Eyke wurde Friseur, Axel Mischke wollte Schweißer bei Schichau werden, Susi Kater lernte Verkäuferin im Kaufhaus Sternfeld, hatte schon einen festen Freund. Wie sich in drei, vier Jahren alles ändern kann. Da gab es zwar immer noch die alte Teppichklopfstange, auch stand in der Hausordnung: Dienstag und Freitag Teppichklopfen, aber das knallte nur noch spärlich und fast verlegen an den zwei Wochentagen: seit Hitlers Machtübernahme gab es mehr und mehr Staubsauger in den Haushaltungen; die Teppichklopfstangen vereinsamten und dienten nur noch den Sperlingen.

So blieben mir alleine das Treppenhaus und der Dachboden. Unter den Dachpfannen ging ich meiner bewährten Lektüre nach, im Treppenhaus klopfte ich, wenn ich Sehnsucht nach Menschen hatte, an der ersten Tür links in der zweiten Etage. Mutter Truczinski machte immer auf. Seitdem sie mich auf dem Brenntauer Friedhof an der Hand gehalten und zum Grabe meiner armen Mama geführt hatte, machte sie immer auf, wenn Oskar mit seinen Trommelstöcken die Türfüllung besuchte.

»Nu trommel nech so laut, Oskarchen. Da Häbert schläft noch beßchen, wail er hat wieder né scharfe Nacht jehabt und se mißten ihm bringen mit Auto.« In die Wohnung zog sie mich dann, goß mir Malzkaffee und Milch ein, gab mir auch ein Stück braunen Kandiszucker am Faden zum Eintauchen und Lecken. Ich trank, lutschte am Kandis und ließ die Trommel ruhen.

Mutter Truczinski hatte einen kleinen runden Kopf, den dünne aschgraue Haare so durchsichtig bespannten, daß die rosa Kopfhaut durchschimmerte. Die spärlichen Fäden strebten alle zum ausladendsten Punkt ihres Hinterkopfes, bildeten dort einen Dutt, der trotz seiner geringen Größe — er war kleiner als eine Billardkugel — von allen Seiten, sie mochte sich drehen und wenden, zu sehen war. Stricknadeln hielten den Dutt zusammen. Ihre runden, beim Lachen wie draufgesetzt wirkenden Wangen rieb Mutter Truczinski jeden Morgen mit dem Papier der Zichoriepackungen ein, das rot war und abfärbte. Sie hatte den Blick einer Maus. Ihre vier Kinder hießen: Herbert, Guste, Fritz, Maria.

Maria war in meinem Alter, hatte die Volksschule gerade hinter sich, wohnte und machte die Haushaltslehre bei einer Beamtenfamilie in Schidlitz. Fritz, der in der Waggonfabrik arbeitete, sah man selten. Abwechselnd zwei bis drei Mädchen hatte er, die ihm das Bett machten, mit denen er in Ohra auf der »Reitbahn« tanzen ging. Auf dem Hof des Miethauses hielt er sich Kaninchen, Blaue Wiener, die aber Mutter Truczinski versorgen mußte, weil Fritz bei sei' nen Freundinnen alle Hände voll zu tun hatte. Guste, eine ruhige Person, um die dreißig herum, war Serviererin im Hotel Eden am Hauptbahnhof. Immer noch unverheiratet wohnte sie wie alles Personal des erstklassigen Hotels im oberen Stockwerk des Eden-Hochhauses. Herbert endlich, der Älteste, der als einziger bei seiner Mutter wohnte — wenn man von gelegentlichen Übernachtungen des Monteurs Fritz absehen will —, arbeitete als Kellner in der Hafenvorstadt Neufahrwasser. Von ihm soll hier die Rede sein. Denn Herbert Truczinski wurde nach dem Tod meiner armen Mama, eine kurze glückliche Zeit lang, das Ziel meiner Anstrengungen; noch heute nenne ich ihn meinen Freund.

Herbert kellnerte bei Starbusch. So hieß der Wirt, dem die Kneipe »Zum Schweden« gehörte.

Gegenüber der protestantischen Seemannskirche lag die, und die Gäste der Kneipe waren — wie die Inschrift »Zum Schweden« leicht erraten läßt — zumeist Skandinavier. Doch kamen auch Russen, Polen aus dem Freihafen, Stauer vom Holm und Matrosen der gerade zum Besuch eingelaufenen reichsdeutschen Kriegsschiffe. Es war nicht ungefährlich, in dieser wahrhaft europäischen Kneipe zu kellnern. Nur die auf der »Reitbahn Ohra« gesammelten Erfahrungen — Herbert hatte in jenem drittrangigen Tanzlokal gekellnert, bevor er nach Fahrwasser ging — befähigten ihn, über dem im »Schweden« brodelnden Sprachgewirr sein mit englischen und polnischen Brocken versetztes Vorstadtplatt dominieren zu lassen. Dennoch brachte ihn gegen seinen Willen, dafür gratis, ein-bis zweimal im Monat ein Sanitätsauto nach Hause.

Herbert mußte dann auf dem Bauch liegen, schwer atmen, denn er wog an die zwei Zentner, und einige Tage sein Bett belasten. Mutter Truczinski schimpfte an solchen Tagen in einem Stück, während sie gleich unermüdlich für sein Wohl sorgte, dabei mit einer aus dem Dutt gezogenen Stricknadel jedesmal, nachdem sie ihm den Verband erneuert hatte, gegen ein verglastes Bildnis seinem Bett gegenüber tippte, das einen ernst und starr blickenden, fotografierten und retouschierten, schnauzbärtigen Mann darstellte, der einem Teil jener Schnauzbärte glich, die auf den ersten Seiten meines Fotoalbums wohnen.

Jener Herr, auf den die Stricknadel der Mutter Truczinski wies, war jedoch kein Mitglied meiner Familie, sondern Herberts, Gustes, Fritzens und Marias Vater.

BOOK: Die Blechtrommel
4.27Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads

Other books

Identical by Ellen Hopkins
Lioness Rampant by Tamora Pierce
The Ghost Network by Catie Disabato
Straight on Till Morning by Mary S. Lovell