Die Blechtrommel (8 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Da gibt es noch ein Viereck, das die drei wichtigsten Menschen meiner ersten Jahre, ein Dreieck bildend, aufzeigt. Wenn es auch nicht so konzentriert wie das Balkonbild ist, strahlt es dennoch denselben spannungsreichen Frieden aus, der sich wohl nur zwischen drei Menschen schließen und womöglich unterschreiben läßt. Man mag noch soviel über die beliebte Dreiecksthematik des Theaters schimpfen; zwei Personen alleine auf der Bühne, was sollen sie tun, als sich totdiskutieren oder insgeheim nach dem Dritten sehnen. Auf meinem Bildchen sind sie zu dritt. Sie spielen Skat. Das heißt, sie halten die Karten wie wohlorganisierte Fächer, blicken aber nicht, ein Spiel ausreizen wollend, auf ihre Trümpfe, sondern in den Fotoapparat. Jans Hand liegt flach, bis auf den sich richtenden Zeigefinger, neben dem Kleingeld, Matzerath drückt die Fingernägel ins Tischtuch, Mama erlaubt sich einen kleinen und, wie ich glauben möchte, gelungenen Scherz: sie hat eine Karte gezogen, zeigt sie der Linse des Fotoapparates, aber nicht ihren Mitspielern. Wie leicht durch eine einzige Geste, durch das bloße Aufzeigen der Skatkarte Herz Dame, ein gerade noch unaufdringliches Symbol beschworen werden kann; denn wer schwüre nicht auf Herz Dame!

Das Skatspiel — man kann es, wie bekannt sein dürfte, nur zu dritt spielen — war für Mama und die beiden Männer nicht nur das angemessenste Spiel; es war ihre Zuflucht, ihr Hafen, in den sie immer dann fanden, wenn das Leben sie verführen wollte, in dieser oder jener Zusammenstellung zu zweit existierend, dumme Spiele wie Sechsundsechzig oder Mühle zu spielen.

Schluß mit den Drein jetzt, die mich in die Welt setzten, obgleich es ihnen an nichts fehlte. Bevor ich zu mir komme, ein Wort über Gretchen Scheffler, Mamas Freundin, und deren Bäckermeister wie Ehemann, Alexander Scheffler. Er kahlköpfig, sie mit einem zur guten Hälfte aus Goldzähnen bestehenden Pferdegebiß lachend. Er kurzbeinig und auf Stühlen sitzend, nie den Teppich erreichend, sie in selbstgestrickten Kleidern, die sich in Mustern nie genug tun konnten. Später Fotos der beiden Schefflers in Liegestühlen oder vor Rettungsbooten des KdF-Schiffes »Wilhelm Gustloff«, auch auf dem Promenadendeck der »Tannenberg« vom Seedienst Ostpreußen. Jahr für Jahr machten sie Reisen und brachten Andenken aus Pillau, Norwegen, von den Azoren, aus Italien unbeschädigt nach Hause in den Kleinhammerweg, wo er Semmeln buk und sie Kissenbezüge mit Mausezähnchen versah.

Wenn Alexander Scheffler nicht sprach, befeuchtete er unermüdlich mit der Zungenspitze seine Oberlippe, was ihm Matzeraths Freund, der uns schräg gegenüber wohnende Gemüsehändler Greif, als unanständige Geschmacklosigkeit übelnahm.

Obgleich Greff verheiratet war, war er mehr ein Pfadfinderführer denn ein Ehemann. Ein Foto zeigt ihn breit, trocken, gesund in kurz-hosiger Uniform, mit Führerschnüren und dem Pfadfinderhut. Neben ihm steht in gleicher Montur ein blonder, etwas zu großäugiger, vielleicht dreizehnjähriger Junge, den Greff mit linker Hand an der Schulter hält und Zuneigung bezeugend an sich drückt. Den Jungen kannte ich nicht, aber Greff sollte ich durch seine Frau Lina später kennen und begreifen lernen.

Ich verliere mich zwischen Schnappschüssen von KdF-Reisenden und Zeugnissen zarter Pfadfindererotik. Schnell will ich einige Seiten überblättern und zu mir, zu meiner ersten fotografischen Abbildung kommen.

Ich war ein schönes Kind. Die Aufnahme wurde Pfingsten fünfundzwanzig gemacht. Acht Monate war ich alt und zwei Monate jünger als Stephan Bronski, der auf der nächsten Seite im gleichen Format abgebildet ist und unbeschreibliche Gewöhnlichkeit ausstrahlt. Einen gewellten, kunstvoll gerissenen Rand hat die Postkarte, deren Rückseite fürs Adressieren liniert, wahrscheinlich in größerer Auflage abgezogen wurde und für den Familiengebrauch bestimmt war. Der fotografische Ausschnitt zeigt auf dem breitgezogenen Viereck die Form eines allzu symmetrisch geratenen Eies. Nackt und den Dotter versinnbildlichend liege ich bäuchlings auf weißem Fell, das irgendein arktischer Eisbär für einen auf Kinderfotos spezialisierten osteuropäischen Berufsfotografen gestiftet haben muß. Wie für viele Fotos jener Zeit hat man auch für mein erstes Konterfei jenen unverwechselbaren bräunlich warmen Farbton gewählt, den ich menschlich im Gegensatz zum unmenschlich glatten Schwarzweißfoto unserer Tage nennen möchte. Matt verschwommenes, wahrscheinlich gemaltes Blattwerk erstellt den dunklen, mit wenigen Lichtflecken aufgelockerten Hintergrund. Während mein glatter, gesunder Körper in platter Ruhe leicht diagonal auf dem Fell ruht und die polarische Heimat des Eisbars auf sich wirken läßt, halte ich den platzrunden Kinderkopf angestrengt hoch, blicke den jeweiligen Beschauer meiner Nacktheit mit Glanzlichtaugen an.

Man mag sagen, ein Kinderfoto wie alle Kinderfotos. Betrachten Sie bitte die Hände: Sie werden zugeben müssen, daß sich mein frühestes Konterfei von den ungezählten, immer die gleich niedliche Existenz aufweisenden Blüten diverser Fotoalben einprägsam unterscheidet. Mit geballten Fäusten sieht man mich. Keine Wurstfinger, die selbstvergessen, einem noch dunklen haptischen Trieb gehorchend, mit den Zotteln des Eisbärfells spielen. Ernst gesammelt schweben die kleinen Griffe zu seilen des Kopfes, immer bereit, niederzufallen, den Ton anzugeben. Welchen Ton? Den Trommelton!Noch fehlt sie, die man mir anläßlich meiner Geburt unter den Glühbirnen zum dritten Geburtstag versprach; doch wäre es einem geübten Fotomonteur mehr als leicht, das entsprechende, also verkleinerte Klischee einer Kindertrommel einzurücken, ohne die geringsten Retuschen an meiner Körperlage vornehmen zu müssen. Nur das dumme, von mir nicht beachtete Stofftier müßte fort. Es ist ein Fremdkörper in dieser sonst gelungenen Komposition, der man jenes scharfsinnige, hellsichtige Alter, da die ersten Milchzähne durchbrechen wollen, zum Thema stellte.

Später hat man mich nicht mehr auf Eisbärfelle gelegt. Eineinhalb Jahre alt mag ich gewesen sein, da man mich in einem hochrädrigen Kinderwagen vor einen Bretterzaun schob, dessen Zacken und Querverbindungen von einer Schneeschicht dergestalt deutlich nachgezeichnet sind, daß ich annehmen muß, die Aufnahme wurde im Januar sechsundzwanzig gemacht. Die klobige, nach geteertem Holz riechende Machart des Zaunes verbindet sich mir bei längerer Betrachtung mit dem Vorort Hochstrieß, dessen weitläufige Kasernenanlagen vormals den Mackensen-Husaren, zu meiner Zeit der Schutzpolizei des Freistaates, als Unterkunft dienten. Da ich mich jedoch an keine Person erinnern kann, die in dem so benannten Vorort wohnte, wird die Aufnahme anläßlich eines einmaligen Besuches meiner Eltern bei Leuten, die man später nie wieder oder nur flüchtig sah, gemacht worden sein.

Mama und Matzerath, die den Kinderwagen zwischen sich halten, tragen trotz der kalten Jahreszeit keine Wintermäntel. Vielmehr kleidet Mama eine langärmelige Russenbluse, deren draufgestickte Ornamente sich dem winterlichen Bild den Eindruck erweckend mitteilen: im tiefsten Rußland wird eine Aufnahme der Zarenfamilie gemacht, Rasputin hält den Apparat, ich bin der Zarewitsch und hinter dem Zaun hocken Menschewiki und Bolschewiki, beschließen, Bomben bastelnd, den Untergang meiner selbstherrscherlichen Familie. Matzeraths korrektes, mitteleuropäisches, wie man sehen wird, zukunftträchtiges Kleinbürgertum bricht der im Foto schlummernden Moritat die gewaltsame Spitze ab. Man war im friedlichen Hochstrieß, verließ für einen Augenblick, ohne die Wintermäntel anzulegen, die Wohnung der Gastgeber, ließ sich mit dem kleinen, wunschgemäß drollig blickenden Oskar in der Mitte vom Hausherrn fotografieren, um es gleich darauf bei Kaffee, Kuchen und Schlagsahne warm, süß und vergnügt zu haben.

Es gibt noch ein gutes Dutzend Schnappschüsse des liegenden, sitzenden, kriechenden, laufenden, einjährigen, zweijährigen, zweieinhalbjährigen Oskar. Die Aufnahmen sind mehr oder weniger gut, bilden insgesamt nur die Vorstufe zu jenem ganzfigürlichen Porträt, das man anläßlich meines dritten Geburtstages machen ließ.

Da habe ich sie, die Trommel. Da hängt sie mir gerade, neu und weißrot gezackt vor dem Bauch. Da kreuze ich selbstbewußt und unter ernst entschlossenem Gesicht hölzerne Trommelstöcke auf dem Blech. Da habe ich einen gestreiften Pullover an. Da stecke ich in glänzenden Lackschuhen. Da stehen mir die Haare wie eine putzsüchtige Bürste auf dem Kopf, da spiegelt sich in jedem meiner blauen Augen der Wille zu einer Macht, die ohne Gefolgschaft auskommen sollte. Da gelang mir damals eine Position, die aufzugeben ich keine Veranlassung hatte. Da sagte, da entschloß ich mich, da beschloß ich, auf keinen Fall Politiker und schon gar nicht Kolonialwarenhändler zu werden, vielmehr einen Punkt zu machen, so zu verbleiben — und ich blieb so, hielt mich in dieser Größe, in dieser Ausstattung viele Jahre lang.

Kleine und große Leut', kleiner und großer Belt, kleines und großes ABC, Hänschenklein und Karl der Große, David und Goliath, Mann im Ohr und Gardemaß; ich blieb der Dreijährige, der Gnom, der Däumling, der nicht aufzustockende Dreikäsehoch blieb ich, um Unterscheidungen wie kleiner und großer Katechismus enthoben zu sein, um nicht als einszweiundsiebzig großer, sogenannter Erwachsener, einem Mann, der sich selbst vor dem Spiegel beim Rasieren mein Vater nannte, ausgeliefert und einem Geschäft verpflichtet zu sein, das, nach Matzeraths Wunsch, als Kolonialwarengeschäft einem einundzwanzigjährigen Oskar die Welt der Erwachsenen bedeuten sollte. Um nicht mit einer Kasse klappern zu müssen, hielt ich mich an die Trommel und wuchs seit meinem dritten Geburtstag keinen Fingerbreit mehr, blieb der Dreijährige, aber auch Dreimalkluge, den die Erwachsenen alle überragten, der den Erwachsenen so überlegen sein sollte, der seinen Schatten nicht mit ihrem Schatten messen wollte, der innerlich und äußerlich vollkommen fertig war, während jene noch bis ins Greisenalter von Entwicklung faseln mußten, der sich bestätigen ließ, was jene mühsam genug und oftmals unter Schmerzen in Erfahrung brachten, der es nicht nötig hatte, von Jahr zu Jahr größere Schuhe und Hosen zu tragen, nur um beweisen zu können, daß etwas im Wachsen sei.

Dabei, und hier muß auch Oskar Entwicklung zugeben, wuchs etwas — und nicht immer zu meinem Besten — und gewann schließlich messianische Größe; aber welcher Erwachsene hatte zu meiner Zeit den Blick und das Ohr für den anhaltend dreijährigen Blechtrommler Oskar?

GLAS, GLAS, GLÄSCHEN

Beschrieb ich soeben ein Foto, das Oskars ganze Figur mit Trommel, Trommelstöcken zeigt, und gab gleichzeitig kund, was für längstgereifte Entschlüsse Oskar während der Fotografiererei und angesichts der Geburtstagsgesellschaft um den Kuchen mit den drei Kerzen faßte, muß ich jetzt, da das Fotoalbum verschlossen neben mir schweigt,jene Dinge zur Sprache bringen, die zwar meine anhaltende Dreijährigkeit nicht erklären, sich aber dennoch — und von mir herbeigeführt — ereigneten.

Von Anfang an war mir klar: die Erwachsenen werden dich nicht begreifen, werden dich, wenn du für sie nicht mehr sichtbar wächst, zurückgeblieben nennen, werden dich und ihr Geld zu hundert Ärzten schleppen, und wenn nicht deine Genesung, dann die Erklärung für deine Krankheit suchen. Ich mußte also, um die Konsultationen auf ein erträgliches Maß beschränken zu können, noch bevor der Arzt seine Erklärung abgab, meinerseits den plausiblen Grund fürs ausbleibende Wachstum liefern.

Ein sonniger Septembertag, mein dritter Geburtstag. Zarte, nachsommerliche Glasbläserei, selbst Gretchen Schefflers Gelächter gedämpft. Mama am Klavier aus dem Zigeunerbaron intonierend, Jan hinter ihr und dem Schemelchen stehend, ihre Schulter berührend, die Noten studieren wollend.

Matzerath schon das Abendbrot vorbereitend in der Küche. Großmutter Anna mit Hedwig Bronski und Alexander Scheffler zum Gemüsehändler Greff hinüberrückend, weil Greff immer Geschichten wußte, Pfadfindergeschichten, in deren Verlauf sich Treue und Mut zu beweisen hatten; dazu eine Standuhr, die keine Viertelstunde des feingesponnenen Septembertages ausließ; und da alle gleich der Uhr so beschäftigt waren und sich vom Ungarnland des Zigeunerbarons, über Greff s Vogesen durchwandernde Pfadfinder eine Linie an Matzeraths Küche vorbei, wo kaschubische Pfifferlinge mit Rührei und Bauchfleisch in der Pfanne erschraken, zum Laden hin durch den Korridor zog, folgte ich, leichthin auf meiner Trommel dröselnd, der Flucht, stand schon im Laden hinter dem Ladentisch : fern das Klavier, die Pfifferlinge und Vogesen, und bemerkte, daß die Falltür zum Keller offen stand; Matzerath, der eine Konservendose mit gemischtem Obst für den Nachtisch hochgeholt hatte, mochte vergessen haben, sie zu schließen.

Es bedurfte doch immerhin einer Minute, bis ich begriff, was die Falltür zu unserem Lagerkeller von mir verlangte. Bei Gott, keinen Selbstmord! Das wäre wirklich zu einfach gewesen. Das andere jedoch war schwierig, schmerzhaft, verlangte ein Opfer und trieb mir schon damals, wie immer, wenn mir ein Opfer abverlangt wird, den Schweiß auf die Stirn. Vor allen Dingen durfte meine Trommel keinen Schaden nehmen, wohlbehalten galt es, sie die sechzehn ausgetretenen Stufen hinab zu tragen und zwischen den Mehlsäcken, ihren unbeschädigten Zustand motivierend, zu placieren. Dann wieder hinauf bis zur achten Stufe, nein, eine tiefer, oder die fünfte täte es auch. Aber Sicherheit und glaubwürdiger Schaden ließen sich von dort herab nicht verbinden. Wieder hinauf, zu hoch hinauf auf die zehnte Stufe, und endlich von der neunten Stufe hinab stürzte ich mich, ein Regal voller Flaschen mit Himbeersirup mitreißend, kopfvoran auf den Zementboden unseres Lagerkellers.

Noch bevor sich meinem Bewußtsein die Gardine vorzog, bestätigte ich mir den Erfolg des Experimentes: die mit Absicht herabgerissenen Himbeersirupflaschen lärmten genug, um Matzerath aus der Küche, Mama vom Klavier, den Rest der Geburtstagsgesellschaft aus den Vogesen in den Laden zur offenen Falltür und die Treppe hinunter zu locken.

Bevor sie kamen, ließ ich noch den Geruch des fließenden Himbeersirups auf mich wirken, nahm auch wahr, daß mein Kopf blutete, und überlegte mir noch, während sie schon auf der Treppe waren, ob wohl Oskars Blut oder die Himbeeren so süß und müde machend rochen, war aber heilfroh, daß alles geklappt und die Trommel dank meiner Vorsicht keinen Schaden genommen hatte.

Ich glaube, Greff trug mich hoch. Im Wohnzimmer erst tauchte Oskar wieder aus jener Wolke auf, die wohl zur Hälfte aus Himbeersirup und zur anderen Hälfte aus seinem jungen Blut bestand. Der Arzt war noch nicht da, Mama schrie und schlug Matzerath, der sie beruhigen wollte, mehrmals und nicht nur mit der Handfläche, auch mit dem Handrücken, ihn einen Mörder nennend, ins Gesicht.

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