Die Blechtrommel (71 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Von den zehn Schülern des Professors Maruhn waren, wenn lange Haare ein Geschlechtszeichen sind, sechs als Mädchen zu bezeichnen. Vier waren häßlich und begabt. Zwei waren hübsch, schwatzhaft und wirkliche Mädchen. Ich habe mich nie als Aktmodell geniert. Ja, Oskar genoß sogar das Erstaunen der beiden hübschen und schwatzhaften Bildhauermädchen, als die mich zum erstenmal auf der Drehscheibe musterten und leicht irritiert feststellten, daß Oskar, trotz Buckel, trotz sparsam bemessener Körpergröße ein Geschlechtsteil mit sich führte, welches sich notfalls mit jedem anderen, sogenannten normalen männlichen Attribut hätte messen können.

Mit den Schülern des Meisters Maruhn verhielt es sich etwas anders als mit dem Meister. Die hatten schon nach zwei Tagen die Gerüste stehen, taten genial und klatschten, von genialer Eile besessen, den Ton zwischen die hastig und unsachgemäß befestigten Bleirohre, hatten aber wohl zu wenig hölzerne Schmetterlinge in meinen Gerüstbuckel gehängt: denn kaum hing die Last des feuchtatmenden Modelliertones, Oskar ein wild zerklüftetes Aussehen gebend, in den Gerüsten, da neigte sich schon zehnmal der frischangelegte Oskar, da fiel mir der Kopf zwischen die Füße, da klatschte der Ton von den Bleirohren, da rutschte mir der Buckel in die Kniekehlen, da lernte ich den Meister Maruhn schätzen, der ein so vortrefflicher Gerüstbauer war, daß er das Kaschieren des Gerüstes mit dem billigen Stoff gar nicht nötig hatte.

Es gab sogar Tränen bei den häßlichen, aber begabten Bildhauermädchen, wenn der Ton-Oskar sich vom Gerüst-Oskar trennte. Die hübschen, aber schwatzhaften Bildhauermädchen lachten, wenn mir, fast sinnbildlich, das Fleisch zeitraffend von den Knochen fiel. Als es den Bildhauerlehrlingen dennoch gelang, nach mehreren Wochen einige brave Skulpturen zuerst in Ton, dann in Gips und Glanz für die Semesterschlußausstellung anzufertigen, hatte ich Gelegenheit, immer wieder neue Vergleiche zwischen den häßlichen und begabten, den hübschen, aber schwatzhaften Mädchen anzustellen. Während die garstigen, aber nicht kunstlosen Jungfrauen recht sorgfältig meinen Kopf, die Glieder, den Buckel nachbildeten, mein Geschlechtsteil jedoch aus merkwürdiger Scheu heraus entweder vernachlässigten oder albern stilisierten, verschwendeten die lieblichen, großäugigen, zwar schönfingrigen, dennoch ungeschickten Jungfrauen wenig Aufmerksamkeit an die gegliederten Maße meines Körpers, aber allen Fleiß an die haargenaue Nachbildung meiner ansehnlichen Genitalien. Um die vier bildhauernden jungen Männer in diesem Zusammenhang nicht zu vergessen, sei berichtet: die abstrahierten mich, klopften mich mit flachen gerillten Brettchen viereckig und ließen das, was die häßlichen Jungfrauen vernachlässigten, die lieblichen Jungfrauen wie fleischige Natur blühen ließen, mit trockenem Männerverstand als viereckig längliches Klötzchen über zwei gleich großen Würfeln wie das zeugungswütige Organ eines Baukastenkönigs in den Raum ragen.

Sei es meiner blauen Augen wegen, sei es der Heizsonnen wegen, die die Bildhauer um mich, den nackten Oskar, aufstellten: junge Maler, die die anmutigen Bildhauermädchen besuchten, entdeckten entweder im Augenblau oder in meiner angestrahlten, krebsrot glühenden Haut den malerischen Reiz, entführten mich aus den zu ebener Erde liegenden Bildhauer-und Grafikerateliers in die oberen Stockwerke und mischten fortan nach mir ihre Farben auf den Paletten.Anfangs waren die Maler noch allzusehr von meinem blauen Blick beeindruckt. So blau schien ich sie anzusehen, daß Malers Pinsel mich ganz und gar blau wollte. Oskars gesundes Fleisch, sein gewelltes Braunhaar, sein frischer, durchbluteter Mund welkten, schimmelten in makabren Blautönen; allenfalls, daß sich hier und da, die Verwesung noch beschleunigend, todkrankes Grün, speiübles Gelb zwischen meine blauen Fleischlappen schoben.

Oskar kam erst zu anderen Farben, als er während des Karnevals, der eine Woche lang in den Kellerräumen der Akademie gefeiert wurde, Ulla entdeckte und als Muse den Malern zuführte.

War es der Rosenmontag? Es war am Rosenmontag, da ich mich entschloß, mitzufeiern, kostümiert hinzugehen und einen kostümierten Oskar in die Menge zu mischen.

Maria sagte, als sie mich vor dem Spiegel sah: »Nu blaib zu Haus, Oskar. Die zertrampeln dir nur.«

Dann half sie mir doch beim Kostümieren, schnitt Stoffreste zu, die ihre Schwester Guste sogleich mit geschwätziger Nadel zu einem Narrenkleid zusammenfügte. Zuerst schwebte mir etwas im Stil Velazquez' vor. Auch hätte ich mich gerne als Feldherr Narses, womöglich als Prinz Eugen gesehen.

Als ich schließlich vor dem großen Spiegelglas stand, dem Kriegsereignisse zu einem diagonalen, das Spiegelbild leicht versetzenden Sprung verhelfen hatten, als das ganze bunte, gepluderte, geschlitzte, mit Schellen behängte Zeug deutlich wurde, meinen Sohn Kurt zu Gelächter und Hustenanfall reizte, sagte ich mir leise, nicht gerade glücklich: Nun bist du Yorick der Narr, Oskar. Doch wo gibt es einen König, den du narren könntest!?

Schon in der Straßenbahn, die mich zum Ratinger Tor, in die Nähe der Akademie bringen sollte, fiel mir auf, daß ich das Volk, alles was da als Cowboy und Spanierin das Büro und den Ladentisch verdrängen wollte, nicht zum Lachen brachte, sondern erschreckte. Man nahm Abstand, und so kam ich trotz des vollbesetzten Straßenbahnwagens in den Genuß eines Sitzplatzes. Vor der Akademie schwangen Polizisten ihre waschechten und gar nicht kostümierten Gummiknüppel. Der »Musentümpel« — so hieß das Fest der Kunstjünger — war überfüllt, die Menge versuchte dennoch das Gebäude zu erstürmen und setzte sich mit der Polizei teilweise blutig, auf jeden Fall farbig auseinander.

Als Oskar sein kleines Glöckchen, das ihm am linken Ärmel hing, sprechen ließ, teilte sich die Menge, ein Polizist, der von Berufs wegen meine Größe erkannte, salutierte von oben herab, fragte nach meinen Wünschen und geleitete mich, seinen Knüppel schwingend, in die festlichen Kellerräume — dort kochte das Fleisch, war aber noch nicht gar.

Nun darf niemand glauben, daß ein Künstlerfest ein Fest ist, auf dem Künstler ein Fest feiern. Die Mehrzahl der Akademiestudenten stand mit ernsten, angestrengten, wenn auch bemalten Gesichtern hinter originellen, aber etwas wackeligen Schanktischen und suchte, Bier, Sekt, Wiener Würstchen und schlecht eingeschenkte Schnäpse verkaufend, einen Nebenverdienst. Das eigentliche Künstlerfest wurde von Bürgern bestritten, die einmal im Jahre mit Geld um sich werfen, wie Künstler leben und feiern wollten.

Nachdem ich etwa ein Stündchen lang auf Treppen, in Ecken unter Tischen Pärchen erschreckt hatte, die im Begriff waren, der Unbequemlichkeit einen Reiz abzugewinnen, befreundete ich mich mit zwei Chinesinnen, die aber griechisches Blut in den Adern haben mußten, denn die praktizierten eine Liebe, die vor Jahrhunderten auf der Insel Lesbos besungen wurde. Wenn die beiden auch recht fix und vielfingerig einander zusetzten, ließen sie mich doch an den entscheidenden Stellen in Ruhe, boten mir eine teilweise recht amüsante Schau, tranken mit mir zu warmen Sekt und erprobten, mit meiner Erlaubnis, den Widerstand meines am äußersten Punkt recht stößigen Buckels, hatten wohl Glück dabei — was meine These einmal mehr bestätigt: ein Buckel bringt den Frauen Glück.

Dennoch machte mich dieser Umgang mit Frauen, je länger er dauerte, immer trauriger. Gedanken bewegten mich, Politik stimmte mich sorgenvoll, mit Sekt malte ich die Blockade der Stadt Berlin auf die Tischplatte, pinselte an der Luftbrücke, verzweifelte angesichts der beiden Chinesinnen, die nicht zusammenkommen konnten, an der Wiedervereinigung Deutschlands und tat, was ich sonst nie tat: Oskar suchte als Yorick den Sinn des Lebens.

Als meinen Damen nichts Sehenswertes mehr einfiel — sie verfielen dem Weinen, was ihren geschminkten Chinesengesichtern verräterische Spuren zeichnete — erhob ich mich geschlitzt, gepludert, mit Schellen lärmend, wollte zu zwei Dritteln nach Hause, suchte mit einem Drittel noch ein kleines karnevalistisches Erlebnis und sah — nein, er sprach mich an — den Obergefreiten Lankes.

Erinnern Sie sich noch? Wir begegneten ihm am Atlantikwall während des Sommers vierundvierzig.

Er bewachte dort den Beton und rauchte die Zigaretten meines Meisters Bebra.

Die Treppe, auf der man dichtgedrängt saß und knutschte, wollte ich hinauf, gab mir gerade selbst Feuer, da tippte es mich an, und ein Obergefreiter des letzten Weltkrieges sprach: »Äh, Kumpel, haste nich'n Zigarett för mich?«

Kein Wunder, daß ich ihn mit Hilfe dieser Rede, auch weil sein Kostüm feldgrau war, sofort erkannte.

Dennoch hätte ich diese Bekanntschaft nie aufgefrischt, hätte der Obergefreite und Betonmaler nicht die Muse persönlich auf dem feldgrauen Knie gehabt.

Lassen Sie mich erst mit dem Maler sprechen und später die Muse beschreiben. Nicht nur die Zigarette gab ich ihm, ließ auch mein Feuerzeug wirken und sagte, während er zu Rauch kam:

»Erinnern Sie sich, Obergefreiter Lankes? Bebras Fronttheater? Mystisch, barbarisch, gelangweilt?«Der Maler erschrak, als ich ihn so ansprach, ließ zwar nicht die Zigarette, aber die Muse von seinem Knie fallen. Ich fing das völlig betrunkene, langbeinige Kind auf und gab es ihm zurück.

Während wir beide, Lankes und Oskar, Erinnerungen austauschten, über den Oberleutnant Herzog, den Lankes einen Spinner nannte, schimpften, meines Meisters Bebra und auch der Nonnen gedachten, die damals zwischen dem Rommelspargel Krabben suchten, verwunderte ich mich über die Erscheinung der Muse. Sie war als Engel gekommen, trug einen Hut aus plastisch geformter Preßpappe, wie man sie zum Verpacken von Export-Eiern verwendet, und spiegelte trotz starker Trunkenheit, trotz traurig geknickter Flügel immer noch den leicht kunstgewerblichen Liebreiz einer Himmelsbewohnerin.

»Dat is Ulla«, klärte mich der Maler Lankes auf. »Die hat eijentlich Schneiderin jelernt, will aber jetzt in Kunst machen, was mia janich in mein Kram paßt, denn mit der Schneiderei verdient se was, mit Kunst nich.«

Da erbot sich Oskar, der ja mit der Kunst schönes Geld verdiente, die Schneiderin Ulla als Modell und Muse bei den Malern der Kunstakademie einzuführen. So begeistert war Lankes von meinem Vorschlag, daß er gleich drei Zigaretten aus meinem Päckchen zog, dafür seinerseits eine Einladung in sein Atelier hervorbrachte; nur müsse ich das Taxi bis dahin bezahlen, schränkte er die Einladung sogleich wieder ein.

Wir fuhren sofort, ließen den Karneval hinter uns, ich bezahlte das Taxi, und Lankes, der sein Atelier in der Sittarder Straße hatte, machte uns überm Spiritus einen Kaffee, der die Muse wieder belebte. Sie wirkte, nachdem sie sich mit Hilfe meines rechten Zeigefingers übergeben hatte, beinahe nüchtern.

Jetzt erst sah ich, daß sie sich aus hellblauen Augen ständig verwunderte, hörte auch ihre Stimme, die ein wenig piepsig, blechern, doch nicht ohne rührenden Liebreiz war. Als ihr der Maler Lankes meinen Vorschlag unterbreitete, ihr das Modellstehen in der Kunstakademie mehr befahl denn vorschlug, weigerte sie sich zuerst, wollte weder Muse noch Modell in der Kunstakademie werden, wollte nur dem Maler Lankes gehören. Doch jener gab ihr trocken und wortlos, wie es begabte Maler gerne tun, mit großer Hand einige Ohrfeigen, fragte sie nochmals und lachte zufrieden, schon wieder gutmütig, als sie sich schluchzend, genau wie ein Engel weinend, bereit erklärte, für die Maler der Kunstakademie zum gutbezahlten Modell und womöglich zur Muse zu werden.

Man muß sich vorstellen, daß Ulla etwa einen Meter achtundsiebenzig mißt, überschlank, lieblich und zerbrechlich ist und an Botticelli und Cranach gleichzeitig erinnert. Wir standen Doppelakt.

Langustenfleisch hat etwa die Farbe ihres langen und glatten Fleisches, den zarter kindlicher Flaum bedeckt. Ihr Haupthaar eher dünn, aber lang und strohblond. Die Schamhaare kraus rötlich, nur ein kleines Dreieck bewachsend. Unter den Armen rasiert Ulla sich wöchentlich.

Wie zu erwarten war, konnten die üblichen Kunstschüler nicht viel mit uns anfangen, machten ihr zu lange Arme, mir einen zu großen Kopf, verfielen also den Fehlern aller Anfänger: sie bekamen uns nicht ins Format.

Erst als uns Ziege und Raskolnikoff entdeckten, entstanden Bilder, die der Muse und Oskars Erscheinung gerecht wurden.

Sie schlafend, ich sie erschreckend: Faun und Nymphe.

Ich hockend, sie mit kleinen, immer ein wenig frierenden Brüsten über mich gebeugt, mein Haar streichelnd: Die Schöne und das Untier.

Sie liegend, ich zwischen ihren langen Beinen mit einer gehörnten Pferdemaske spielend: Die Dame und das Einhorn.

Das alles in Zieges oder Raskolnikoffs Stil, mal farbig, dann wieder in vornehmen Grautönen, mal mit feinem Pinsel detailliert, dann wieder in Zieges Manier mit genialem Spachtel hingeschmettert, mal das Geheimnisvolle um Ulla und Oskar nur angedeutet, und dann war es Raskolnikoff, der mit unserer Hilfe zum Surrealismus fand: da wurde Oskars Gesicht zu einem honiggelben Zifferblatt, wie es einst unsere Standuhr zeigte, da blühten in meinem Buckel mechanisch rankende Rosen, die Ulla zu pflücken hatte, da saß ich der oben lächelnden, unten langbeinigen Ulla im aufgeschnittenen Leib und hatte, zwischen ihrer Milz und Leber hockend, in einem Bilderbuch zu blättern. Auch steckte man uns gerne in Kostüme, machte aus Ulla die Kolumbine, aus mir einen weißgeschminkten traurigen Mimen.

Schließlich blieb es Raskolnikoff vorbehalten — man nannte ihn so, weil er ständig von Schuld und Sühne sprach — das ganz große Bild zu malen: Ich saß auf Ullas leichtbeflaumtem linkem Oberschenkel — nackt, ein verwachsenes Kindlein — sie gab die Madonna ab; Oskar hielt still für Jesus.

Dieses Bild wanderte später durch viele Ausstellungen, hieß dort: Madonna 49 — bewies auch als Plakat seine Wirkung, kam so meiner gutbürgerlichen Maria zu Augen, bewirkte häuslichen Krach und wurde dennoch für rundes Geld von einem rheinischen Industriellen gekauft — hängt wohl heute noch im Sitzungssaal eines Bürohochhauses und beeinflußt Vorstandsmitglieder.

Mich unterhielt jener begabte Unfug, den man mit meinem Buckel und meinen Proportionen anstellte.

Dazu kam, daß man Ulla und mir, begehrt wie wir waren, pro Stunde Doppelakt zwei Mark und fünfzig bezahlte. Auch Ulla fühlte sich als Modell wohl. Der Maler Lankes mit der großen schlagkräftigen Hand behandelte sie besser, seitdem sie regelmäßig Geld nach Hause brachte, und schlug sie nur noch, wenn seine genialen Abstraktionen von ihm eine zornige Hand verlangten. So war sie auch diesem Maler, der sie rein optisch nie als Modell benutzte, im gewissen Sinne eine Muse; denn nur jene Ohrfeigen, die er ihr austeilte, verliehen seiner Malerhand die wahre schöpferische Potenz.

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