Im Rahmen eines Riesenprogramms traten wir in der Salle Pleyel und im Theatre Sarah Bernhardt auf.
Oskar gewöhnte sich schnell an die großstädtischen Bühnenverhältnisse, verfeinerte sein Repertoire, paßte sich dem verwöhnten Geschmack der Pariser Besatzungstruppen an: ich zersang nicht mehr simple, deutsch-ordinäre Bierflaschen, nein, ausgesuchteste, schöngeschwungene, hauchdünn geatmete Vasen und Fruchtschalen aus französischen Schlössern zersang und zerscherbte ich. Nach kulturhistorischen Gesichtspunkten baute sich mein Programm auf, begann mit Gläsern aus der Zeit Louis XIV., ließ Glasprodukte aus der Epoche Louis XV. zu Glasstaub werden. Mit Vehemenz, der revolutionären Zeit eingedenk, suchte ich die Pokale des unglücklichen Louis XVI. und seiner kopflosen Marie Antoinette heim, ein bißchen Louis Philippe, und zum Abschluß setze ich mich mit den gläsernen Phantasieprodukten des französischen Jugendstils auseinander.
Wenn auch die feldgraue Masse im Parkett und auf den Rängen dem historischen Ablauf meiner Darbietungen nicht folgen konnte und die Scherben nur als gewöhnliche Scherben beklatschte, gab es dann und wann doch Stabsoffiziere und Journalisten aus dem Reich, die außer den Scherben auch meinen Sinn fürs Historische bewunderten. Ein uniformierter Gelehrtentyp wußte mir Schmeichelhaftes über meine Künste zu sagen, als wir, nach einer Gala-Vorstellung für die Kommandantur, ihm vorgestellt wurden. Besonders dankbar war Oskar dem Korrespondenten einer führenden Zeitung des Reiches, der in der Seine-Stadt weilte, sich als Spezialist für Frankreich auswies und mich diskret auf einige kleine Fehler, wenn nicht Stilbrüche in meinem Programm aufmerksam machte.
Wir blieben den Winter über in Paris. In erstklassigen Hotels logierte man uns ein, und ich will nicht verschweigen, daß Roswitha an meiner Seite den ganzen langen Winter hindurch die Vorzüge der französischen Bettstatt immer wieder erprobte und bestätigte. War Oskar glücklich in Paris? Hatte er seine Lieben daheim, Maria, den Matzerath, das Gretchen und den Alexander Scheffler, hatte Oskar seinen Sohn Kurt, seine Großmutter Anna Koljaiczek vergessen?
Wenn ich sie auch nicht vergessen hatte, vermißte ich dennoch keinen meiner Angehörigen. So schickte ich auch keine Feldpostkarte nach Hause, gab denen kein Lebenszeichen, bot ihnen vielmehr die Möglichkeit, ein Jahr lang ohne mich zu leben; denn eine Rückkehr hatte ich schon bei der Abfahrt beschlossen, war es doch für mich von Interesse, wie sich die Gesellschaft ohne meine Anwesenheit daheim eingerichtet hatte. Auf der Straße, auch während der Vorstellung suchte ich manchmal in den Gesichtern der Soldaten nach bekannten Zügen. Vielleicht hat man Fritz Truczinski oder Axel Mischke von der Ostfront abgezogen und nach Paris versetzt, spekulierte Oskar, glaubte auch ein oder zweimal in einer Horde Infanteristen Marias flotten Bruder erkannt zu haben; aber er war es nicht: Feldgrau täuscht!
Einzig und alleine der Eiffelturm ließ in mir Heimweh aufkommen. Nicht etwa daß ich ihn bestiegen und, vom Fernblick verführt, den Drang Richtung Heimat erweckt hätte. Oskar hatte den Turm auf Postkarten und in Gedanken so oft bestiegen, daß eine tatsächliche Besteigung nur einen enttäuschten Abstieg bewirkt hätte. Am Fuße des Eiffelturmes, doch ohne Roswitha, alleine unter dem kühn geschwungenen Beginn der Metallkonstruktion stehend oder gar hockend, wurde mir jenes zwar Durchblick gewährende, dennoch geschlossene Gewölbe zur alles verdeckenden Haube meiner Großmutter Anna: wenn ich unter dem Eiffelturm saß, saß ich auch unter ihren vier Röcken, das Marsfeld wurde mir zum kaschubischen Kartoffelacker, ein Pariser Oktoberregen fiel schräg und unermüdlich zwischen Bissau und Ramkau, ganz Paris, auch die Metro, roch mir an solchen Tagen nach leicht ranziger Butter, still wurde ich, nachdenklich, Roswitha ging mit mir behutsam um, achtete meinen Schmerz; denn sie war von feinfühlender Art.
Im April vierundvierzig — von allen Fronten wurden erfolgreiche Frontverkürzungen gemeldet — mußten wir unser Artistengepäck packen, Paris verlassen und den Atlantikwall mit Bebras Fronttheater beglücken. Wir begannen die Tournee in Le Havre. Bebra wollte mir wortkarg, zerstreut vorkommen. Wenn er auch während der Vorstellungen nie versagte und die Lacher nach wie vor auf seiner Seite hatte, versteinerte sich, sobald der letzte Vorhang fiel, sein uraltes Narsesgesicht. Anfangs glaubte ich, in ihm einen Eifersüchtigen und, schlimmer noch, einen vor der Kraft meiner Jugend Kapitulierenden zu sehen. Roswitha klärte mich flüsternd auf, wußte zwar nichts Genaues, munkelte nur von Offizieren, die nach den Vorstellungen Bebra hinter verschlossenen Türen aufsuchten. Es sah so aus, als verließe der Meister seine innere Emigration, als plante er etwas Direktes, als regierte in ihm das Blut seines Vorfahren, des Prinzen Eugen. Es hatten ihn seine Pläne so weit von uns entfernt, ihn zwischen so weiträumige Bezüglichkeiten geführt, daß Oskars enges Verhältnis zu seiner ehemaligen Roswitha allenfalls ein müdes Lächeln in sein Faltengesicht lockte. Als er uns — in Trouville war's, wir logierten im Kurhotel — engumschlungen auf dem Teppich unserer gemeinsamen Garderobe überraschte, winkte er ab, als wir auseinanderfallen wollten, und sagte in seinen Schminkspiegel hinein: »Habt euch, Kinder, küßt euch, morgen besichtigen wir den Beton, und schon übermorgen knirscht euch Beton zwischen den Lippen, nimmt euch die Lust am Kuß!«
Das war im Juni vierundvierzig. Wir hatten inzwischen den Atlantikwall von der Biscaya bis hoch nach Holland abgeklappert, blieben jedoch zumeist im Hinterland, sahen nicht viel von den sagenhaften Bunkern, und erst in Trouville spielten wir erstmals direkt an der Küste. Man bot uns eine Besichtigung des Atlantikwalls an. Bebra sagte zu. Letzte Vorstellung in Trouville. Nachts wurden wir in das Dörfchen Bavent, kurz vor Caen, vier Kilometer hinter den Stranddünen verlegt. Man quartierte uns bei Bauern ein.
Viel Weideland, Hecken, Apfelbäume. Man brennt dort den Obstschnaps Calvados. Wir tranken davon und schliefen gut danach. Scharfe Luft kam durchs Fenster, ein Froschtümpel quakte bis zum Morgen. Es gibt Frösche, die können trommeln. Im Schlaf hörte ich sie und ermahnte mich: du mußt nach Hause, Oskar, bald wird dein Sohn Kurt drei Jahre alt, du mußt ihm die Trommel liefern, du hast sie ihm versprochen! Wenn Oskar so ermahnt von Stunde zu Stunde als gepeinigter Vater erwachte, tastete er neben sich, vergewisserte sich seiner Roswitha, nahm ihren Geruch wahr: ganz leicht roch die Raguna nach Zimt, gestoßenen Nelken, Muskat auch; sie roch vorweihnachtlich nach Backgewürzen und hielt diesen Geruch selbst im Sommer.
Mit dem Morgen fuhr vor dem Bauernhof ein Schützenpanzerwagen vor. Im Hoftor schauerten wir alle ein wenig. Es war früh, frisch, gegen den Wind von der See her schwatzten wir, stiegen auf: Bebra, die Raguna, Felix und Kitty, Oskar und jener Oberleutnant Herzog, der uns zu seiner Batterie westlich Cabourg führte.
Wenn ich sage, daß die Normandie grün ist, verschweige ich jenes weißbraun gefleckte Vieh, das links und rechts der schnurgeraden Landstraße auf taunassen, leicht nebligen Weiden seinem Wiederkäuerberuf nachging, unserem gepanzerten Fahrzeug mit einem Gleichmut begegnete, daß die Panzerplatten schamrot geworden wären, hätte man sie zuvor nicht mit einem Tarnanstrich versehen.
Pappeln, Hecken, kriechendes Gebüsch, die ersten ungeschlachten, leeren und mit Fensterläden schlagenden Strandhotels; in die Promenade bogen wir ein, stiegen ab und stiefelten hinter dem Oberleutnant, der dem Hauptmann Bebra einen zwar überheblichen, dennoch strammen Respekt erwies, durch die Dünen, gegen einen Wind voller Sand und Brandungsgeräusch.
Das war nicht die sanfte Ostsee, die mich flaschengrün und mädchenhaft schluchzend erwartete. Da erprobte der Atlantik sein uraltes Manöver: stürmte bei Flut vor, zog sich bei Ebbe zurück.
Und dann hatten wir ihn, den Beton. Bewundern und streicheln durften wir ihn; er hielt still.
»Achtung!« schrie jemand im Beton, warf sich baumlang aus jenem Bunker, der die Form einer oben abgeflachten Schildkröte hatte, zwischen zwei Dünen lag, »Dora sieben« hieß und mit Schießscharten, Sehschlitzen und kleinkalibrigen Metallteilen auf Ebbe und Flut blickte. Obergefreiter Lankes hieß der Mensch, der dem Oberleutnant Herzog, auch unserem Hauptmann Bebra meldete.
Lankes (grüßend): Dora sieben, ein Obergefreiter, vier Mann. Keine besonderen Vorkommnisse!
Herzog: Danke! Stehen Sie bequem, Obergefreiter Lankes. — Sie hören, Herr Hauptmann, keine besonderen Vorkommnisse. So geht das seit Jahren.
Bebra: Immerhin Ebbe und Flut! Die Darbietungen der Natur! Herzog: Genau das ist es, was unseren Leuten zu schaffen macht. Deswegen bauen wir einen Bunker neben dem anderen. Liegen uns schon gegenseitig im Schußfeld. Müssen bald ein paar Bunker sprengen, damit es wieder Platz gibt für neuen Beton.
Bebra (am Beton klopfend, seine Fronttheaterleute machen es ihm nach): Und der Herr Oberleutnant glaubt an Beton?
Herzog: Das wäre wohl nicht das geeignete Wort. Wir glauben hier so ziemlich an nix mehr. Was Lankes?
Lankes: Jawoll, Herr Leutnant, an nix mehr!
Bebra: Aber sie mischen und stampfen.
Herzog: Ganz im Vertrauen. Man sammelt Erfahrungen dabei. Habe doch früher keine Ahnung vom Bau gehabt, bißchen studiert, dann ging es los. Hoffe, meine Erkenntnisse in der Zementverarbeitung nach dem Krieg anwenden zu können. Muß ja wieder alles aufgebaut werden, in der Heimat. — Schaun' sich mal an, den Beton, ganz von nahe. (Bebra und seine Leute mit den Nasen dicht am Beton.) Was sehen Sie? Muscheln! Haben ja alles vor der Tür liegen. Brauchen nur nehmen und mischen. Steine, Muscheln, Sand, Zement... Was soll ich Ihnen sagen, Herr Hauptmann, Sie als Künstler und Schauspieler werden dafür Verständnis aufbringen. Lankes! Erzähl'n Se doch mal dem Herrn Hauptmann, was wir in die Bunker einstampfen.
Lankes: Jawoll, Herr Oberleutnant! Herrn Hauptmann erzählen, was wir in Bunker einstampfen. Wir betonieren junge Hunde ein. In jedem Bunkerfundament liegt ein junger Hund begraben.
Bebras Leute: Ein Hündchen!
Lankes: Gibt bald im ganzen Abschnitt, von Caen bis Havre keine jungen Hunde mehr.
Bebras Leute: Keine Hündchen mehr!
Lankes: So fleißig sind wir.
Bebras Leute: So fleißig!Lankes: Werden bald junge Katzen nehmen müssen.
Bebras Leute: Miau!
Lankes: Aber Katzen sind nicht so vollwertig wie junge Hunde. Deshalb hoffen wir, daß es hier bald losgeht.
Bebras Leute: Die Gala-Vorstellung! (Sie klatschen Beifall)
Lankes: Geprobt haben wir ja genug. Und wenn uns die jungen Hunde ausgehen ...
Bebras Leute: Oh!
Lankes:... können wir auch keine Bunker mehr bauen. Denn Katzen, das bedeutet nix Gutes.
Bebras Leute: Miau, miau!
Lankes: Aber wenn Herr Hauptmann noch ganz kurz wissen wollen, warum wir die jungen Hunde ...
Bebras Leute: Die Hündchen!
Lankes: Da kann ich nur sagen: ich glaub da nicht dran!
Bebras Leute: Pfui!
Lankes: Aber die Kameraden hier, die kommen meistens vom Land. Und da macht man das heute noch so, daß wenn man ein Haus oder ne Scheune oder ne Dorfkirche baut, denn muß da was Lebendiges rein, und . . .
Herzog: Schon gut Lankes. Stehen Sie bequem. — Wie Herr Hauptmann also vernommen haben, frönt man hier am Atlantikwall sozusagen dem Aberglauben. Is genau so wie bei Ihnen auf dem Theater, wo man vor der Premiere nicht pfeifen darf, wo sich die Schauspieler, bevor es losgeht, über die Schulter spucken . . .
Bebras Leute: Toitoitoi! (Spucken sich gegenseitig über die Schultern)
Herzog: Doch Scherz beiseite. Man muß den Leuten den Spaß lassen. Auch daß sie in der letzten Zeit dazu übergegangen sind, an den Bunkerausgängen kleine Muschelmosaike und Betonornamente anzubringen, wird auf allerhöchsten Befehl geduldet. Die Leute wollen beschäftigt werden. Und so sage ich zu unserem Chef, den die Betonkringel stören, immer wieder: Besser Kringel am Beton, Herr Major, als Kringel im Gehirn. Wir Deutsche sind Bastler. Machen Sie was dagegen!
Bebra: Nun tragen ja auch wir dazu bei, das wartende Heer am Atlantikwall zu zerstreuen ...
Bebras Leute: Bebras Fronttheater, singt für euch, spielt für euch, hilft euch, den Endsieg erringen!
Herzog: Vollkommen richtig, wie Sie und Ihre Leute das sehen. Doch das Theater alleine tut's nicht.
Zumeist sind wir auf uns selbst angewiesen, so hilft man sich, wie man kann. Was Lankes?
Lankes: Jawoll, Herr Oberleutnant! Hilft sich, wie man kann!
Herzog: Da hören Sie es. — Und wenn der Herr Hauptmann mich nun entschuldigen wollen. Ich muß noch nach Dora vier und Dora fünf rüber. Schaun' sich mal in aller Ruhe den Beton an, hat es in sich.
Lankes wird Ihnen alles zeigen ...
Lankes: Alles zeigen, Herr Oberleutnant!
(Herzog und Bebra grüßen militärisch. Herzog geht nach rechts ab. Die Raguna, Oskar, Felix und Kitty, die sich bisher hinter Bebra hielten, springen hervor. Oskar hält seine Blechtrommel, die Raguna trägt einen Proviantkorb, Felix und Kitty klettern aufs Betondach des Bunkers, beginnen dort mit akrobatischen Übungen. Oskar und Roswitha spielen mit Eimerchen und Schäufelchen neben dem Bunker im Sand, zeigen sich ineinander verliebt, juchzen und necken Felix und Kitty)
Bebra (lässig, nachdem er den Bunker von allen Seiten betrachtet hat): Sagen Sie mal, Obergefreiter Lankes, was sind Sie eigentlich von Beruf?
Lankes: Maler, Herr Hauptmann. Is aber schon lange her.
Bebra: Sie meinen Flachstreicher.
Lankes: Flach auch, Herr Hauptmann, aber sonst mehr in Kunst.
Bebra: Hört, hört! Das hieße also, Sie eifern dem großen Rembrandt nach, Velazquez womöglich?
Lankes: So zwischen den beiden.
Bebra: Aber Mann Gottes! Haben Sie es dann nötig, Beton zu mischen, Beton zu stampfen, Beton zu bewachen? — In die Propagandakompanie gehören Sie. Kriegsmaler sind es, die wir brauchen!
Lankes: Das is nich drinnen bei mir, Herr Hauptmann. Ich mal für heutige Begriffe zu schräge. — Doch wenn Herr Hauptmann ne Zigarette für Obergefreiten haben? (Bebra reicht eine Zigarette) Bebra: Soll schräge etwa modern heißen?
Lankes: Was heißt modern? Bevor die mit ihrem Beton kamen, war schräge ne Zeit lang modern.
Bebra: Ach so?
Lankes: Tja.
Bebra: Pastos malen Sie. Spachteln womöglich?
Lankes: Das auch. Und middem Daumen jeh ich rein, ganz automatisch, und kleb Nägel und Knöppe zwischen, und vor dreiunddreißig hält' ich ne Zeit, da habe ich Stacheldraht auf Zinnober jesetzt.