»Es ist nur Brot, Tante Nadia«, sagte Sebastian.
Er sah so belustigt aus, dass sie ihn am liebsten geschlagen hätte.
»Hier.« Er nahm noch eine Phallische Köstlichkeit, brach sie in drei Stücke und legte sie auf ihren Teller.
Nadia zog die Brauen zusammen. »Hast du saubere Hände?«
»Ja, Tantchen, meine Hände sind sauber. Und ich denke immer noch daran, sie mir nach dem Pinkeln zu waschen. Meistens jedenfalls.«
Sie lachte. Wie hätte sie nicht lachen können? »In Ordnung. Du hältst mich also für albern.«
Sebastian lächelte, während er eine Phallische Köstlichkeit in den geschmolzenen Käse tauchte. »Du bist zum ersten Mal hier. Wir wären alle enttäuscht, wenn es im Pfuhl nichts gäbe, was dich schockiert.«
Nadia nahm ein Stück Brot und tunkte es in den Käse. »Das hier ist einfach nur ein seltsames kleines Dorf, habe ich recht? Verrucht, mit einem Anflug von Humor, unanständig, einfach, weil es Spaß macht.«
»Ja, genau.«
Sie legte das Brot mit dem Käse ab, ohne es gekostet zu haben. »Dann ist der Pfuhl nicht das Problem. Mögen die Wächter des Herzens mir vergeben, ich hatte gehofft, es wäre so.«
Er verspannte sich. »Du bist gekommen, um den Pfuhl zu überprüfen?«
»Ja.«
»Denkst du, er ist die Schwachstelle in den Landschaften unter Gloriannas Obhut?«
»Nein, Sebastian. Ich glaube, ich bin die Schwachstelle.«
Langes Schweigen. Dann sagte Sebastian sanft: »Trink deinen Kaffee. Er wird kalt.«
Gehorsam zog sie Untertasse und Tasse näher zu sich heran. Dabei bemerkte sie, dass er nach einem Glas Wein griff.
»Vor ein paar Tagen«, begann sie zögernd, »veränderte sich die Resonanz einer Stadt in einer meiner Landschaften, etwas passte nicht mehr zusammen. Ich konnte nicht erkennen, ob diese Unstimmigkeit von ein paar Herzen herrührte, die in eine andere Landschaft ziehen mussten, oder ob sich die Stadt selbst verändert hatte. Also habe ich den Marktplatz dieser Stadt aufgesucht.
Unruhe und Sorge hallten aus den Herzen vieler Menschen, die ihrem täglichen Leben nachgingen, aber es war das bösartige Vergnügen einiger weniger, nur schlecht als Entsetzen oder Ekel getarnt, das mich beunruhigte. Selbst in Landschaften des Tageslichts gibt es Herzen, die sich an dunklen Gefühlen laben. Sie sind wie Unkraut in einem Blumenbeet, nur dass man sie nicht ausreißen kann. Es ist eher so, als schneide man sie zurück, damit die guten Pflanzen um sie herum groß und stark genug werden, sie zu überschatten.«
»Ich glaube, ich verstehe. Wenn man jeden, der betrogen, gelogen oder etwas Gemeines getan hat, in eine
dunkle Landschaft schicken würde, gäbe es niemanden mehr in den Landschaften des Tageslichts.«
»Genau. Ein Herz ist zu den edelsten Gefühlen fähig, aber auch zu den boshaftesten. Die Voraussetzungen stecken in jedem von uns. Es sind die Gefühle, die uns zu dem machen, was wir sind.«
»Also was ist auf dem Marktplatz geschehen, das dich so beunruhigt hat?«
Nadia nippte an ihrem Kaffee. »Geschichten über schlimme Dinge, die in der Nachbarstadt vor sich gehen. Ein Junge, der seine Schwester mit einer Axt erschlagen und dabei geschrien hat, dass sie sich jede Nacht in eine riesige Spinne verwandeln und auf ihn klettern würde, während er schlief. Ein Mann, der seine Frau zu Tode geprügelt hat, weil sie sein Abendessen zu spät auf den Tisch gestellt hatte. Gerüchte über Familien, die in einer Pechsträhne gefangen sind. Ich fühlte mich, als beschmierten mich die Worte mit etwas Bösartigem und als ich den Marktplatz verließ, um einen ruhigen Ort zu finden, an dem ich die Resonanz der Gefühle aufnehmen konnte, die dem Licht angehören, erkannte ich, dass ich die Resonanz dieser Bösartigkeit teilte. Ich verlieh ihr Kraft, half ihr, stärker zu werden.«
Sebastian legte seine Hand auf ihre. Sie hielt sich an seiner Wärme, an seiner Berührung fest.
»In dieser Nacht begannen die Träume«, sagte sie, ihre Stimme kaum lauter als ein Flüstern. »Keine Träume im üblichen Sinne. Fast, als würde jemand im Dunkeln flüstern. Aber ich wollte nicht zuhören, und das einzige Bild, an das ich mich aus diesen Träumen erinnern kann, ist, wie ich mich immer wieder gegen eine schwere Holztür werfe, darum kämpfe, sie zu schließen. Was auch immer auf der anderen Seite ist, ich muss es aussperren. Aber ich habe den Schlüssel verloren, und die Tür bleibt einfach nicht zu.«
Sebastian lehnte sich zurück, nahm seinen Wein und
leerte das Glas. »Klingt, als versuche etwas, dich durch das Zwielicht des Halbschlafes zu erreichen.«
»Das was?«
Er schenkte ihr ein grimmiges Lächeln. »So jagen die Inkuben und Sukkuben ihre Beute. Wir müssen nicht in eine andere Landschaft übertreten, brauchen keinen Körperkontakt. Oh, wir mögen wirklichen Sex, aber es sind die Gefühle, an denen wir uns eigentlich laben. Also lassen wir auf der Suche nach einem empfänglichen Geist eine Ranke unserer Macht austreiben und weben eine Fantasie - oder haben an einer Fantasie teil. Wir sind Liebhaber der Träume, die in der Lage sind, einen Traum so wirklich werden zu lassen, dass es zu körperlicher Befriedigung kommt.«
Nadia räusperte sich. »Ich verstehe. Ich habe dich nie … Ich habe dich nie nach diesem Teil deines Lebens gefragt.«
»Und ich hätte es dir nicht erzählt, selbst wenn du gefragt hättest.«
»Ich glaube … ich bin verseucht worden. Vielleicht ein Wächter der Dunkelheit. Vielleicht der Weltenfresser. Deshalb bin ich hier, Sebastian. Ich habe Gloriannas Gründe, den Pfuhl zu schaffen, nie angezweifelt. Bis die Träume begannen.«
»Was glaubst du, tun zu müssen, Tante Nadia?«, fragte Sebastian. Seine Stimme verriet keine Emotion.
Nadia zitterte. »Ich glaubte, zu den Zauberern gehen zu müssen und ihnen zu sagen, wie man sie findet. Sie in die Heiligen Stätten führen - an einen Ort, den keiner von ihnen von sich aus erreichen kann.«
»Aber du hast es nicht getan.« Jetzt klang seine Stimme scharf, alarmiert.
»Nein, habe ich nicht. Stattdessen bin ich hierher gekommen. Glorianna kann Dinge tun, zu denen kein anderer in der Lage ist. Sie heißt das Dunkel willkommen und wandelt trotz allem im Licht. Ich musste diesen Ort
sehen … um mein Vertrauen in Belladonna wieder zu stärken.«
Sebastian atmete tief ein und langsam wieder aus. »Ich möchte dir von den Träumen erzählen, die Lynnea in letzter Zeit hatte.«
Sie konnte spüren, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Oh nein, Sebastian. Ich glaube nicht, dass -«
»Sie räumt Möbel um. Oder besser gesagt, sie deutet irgendwohin, und ich räume Möbel um, schleppe Dinge, die ich in Wirklichkeit niemals tragen könnte. Und es ist eine Mischung aus Möbelstücken. Einige aus unserem Zimmer im Bordell und ein paar aus dem Cottage. Also verschiebe ich das Bett und die Couch und Tische und Stühle, während Lynnea immer wieder sagt: ›Nein, dort gehört es nicht hin‹. Jeden Morgen steht sie auf und sieht sich mit diesem Glanz in den Augen die Möbel an, und ich wache mit Rückenschmerzen auf.
Letzte Nacht habe ich die Fenster neu angeordnet. Ich habe jedes Mal den hölzernen Rahmen gepackt und das ganze Fenster herausgehoben. An der Stelle, an der es gewesen war, entstand nie ein Loch in der Wand, und jedes Mal, wenn ich es gegen eine Wand drückte, erschien eine Öffnung, die genau die richtige Größe für das Fenster hatte.
Aber Lynnea hat immer wieder gesagt, es sei nicht dort, wo es sein sollte. Dann wollte sie von mir, dass ich es an eine Innenwand halte. Ich habe ihr gesagt, dass wir außer der Person im Nebenzimmer nichts sehen würden, aber es war ihr Traum und ich nur der Arbeiter, also tat ich, was mir gesagt wurde.«
Nadia legte den Kopf schief. »Und habt ihr in den nächsten Raum gesehen?«
»Nein«, erwiderte er leise. »Ich konnte gar nichts sehen. Das Fenster war erfüllt von Sonnenlicht. Der ganze Raum war in Licht getaucht. Und als ich mich zu Lynnea umdrehte, war es Glorianna, die da stand.
Sie lächelte und sagte: ›Ja. Jetzt ist alles, wo es hingehört. ‹«
Er griff über den Tisch, nahm ihr Weinglas und trank es zur Hälfte aus. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, oder warum ich es dir überhaupt erzählt habe.«
»Ich weiß, warum du es mir erzählt hast«, antwortete Nadia sanft. »Du glaubst an Glorianna - und du vertraust Belladonna. Ich werde alles daran setzen, mein Vertrauen zurückzugewinnen.«
Sebastian schob seinen Stuhl zurück. »Komm mit. Teaser hatte genug Zeit, Jeb bis zu den Fußspitzen erröten zu lassen, und ich glaube, es ist das Beste, wenn ihr nach Hause zurückkehrt. Und zu Hause bleibt.«
Nadia erzitterte. »Du hältst mich für eine Gefahr, nicht wahr?«
»Ich glaube, du bist vergiftet worden.« Er klopfte leicht an seine Brust. »Hier drin.«
Er hatte recht. Sie konnte die Resonanz seiner Worte spüren und wusste, dass er recht hatte.
»Ja, wir sollten zurückgehen.« Sie straffte die Schultern. »Und der Spaziergang wird mir gut tun.«
Sebastian legte ihr einen Arm und die Schulter. »Das ist zu dumm, weil ihr nämlich auf Dämonenrädern zurückfahren werdet.«
»Dämonen … Oh, nein ich …«
Ohne auf ihren Protest zu achten, rief er Teaser und Jeb herüber, gab ihr einen Augenblick, um sich von Lynnea zu verabschieden und ließ sie hinter sich auf einem Gefährt aufsteigen, das von einem Dämon mit vielen scharfen Zähnen und bösartig gekrümmten Klauen angetrieben wurde.
Auf der Hauptstraße des Pfuhls war es nicht allzu schlimm, aber als sie erst einmal den Schotterweg erreicht hatten, der zum Cottage führte …
»Du kannst jetzt loslassen, Tante Nadia.«
Dieser Meinung war er jedenfalls. Sie fühlte, wie er
ihre Hände tätschelte und versuchte, ihre Fäuste zu öffnen, mit denen sie sich in Todesangst an seinem Hemd festklammerte.
»Wir bewegen uns nicht mehr.«
»Dann warte ich jetzt einfach darauf, dass meine Eingeweide mich wieder einholen.«
Sebastian lachte. Der unverschämte Junge lachte einfach. Das ärgerte sie so sehr, dass sie es schaffte, sein Hemd loszulassen und von dem Rad zu steigen.
Jeb, bemerkte sie, sah keineswegs mitgenommen aus. Sie konnte ihn nicht deutlich erkennen, da einzig die Sterne die Nacht erhellten, aber er rieb sich das Kinn, wie er es immer tat, wenn etwas sein Interesse geweckt hatte.
Teaser grinste Jeb an und legte den Kopf schief.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Jeb. Er ging zu ihr hinüber und umfasste ihren Ellbogen mit einer seiner großen, starken Hände. »Komm mit, Schatz. Wenn wir zu Hause sind, mache ich dir eine Tasse Tee, und du kannst dich ein wenig hinlegen.«
»Sprich nicht mit mir, als sei ich alt und gebrechlich«, fuhr Nadia ihn an. Da die Dämonenräder sie bis an den Rand des Waldes hinter Sebastians Cottage gebracht hatten, war es nicht mehr als ein Fußmarsch von wenigen Minuten, bis sie zu Hause sein würde.
Sie drehte sich zu Sebastian um. »Wenn du mich das nächste Mal besuchen kommst, hoffe ich, dass Sparky dir auf den Kopf macht.«
Jebs unterdrücktes Lachen konnte Sebastians Gestammel nicht übertönen. Damit ging es ihr schon wieder besser, also hakte sie sich bei Jeb ein, und die beiden folgten dem Pfad, der sie nach Hause bringen würde.
Sebastian starrte auf den dunklen Waldpfad und verspürte einen Stich im Herzen.
»Möchtest du nach dem Cottage sehen, wenn wir schon hier sind?«, fragte Teaser.
Er schüttelte den Kopf. »Es ist niemand hier gewesen.« Dessen war er sich sicher, weil er jeden Tag am Cottage vorbeischaute, wenn er die Brücken überprüfte, die in den Pfuhl führten. »Lass uns zurückfahren.«
»Jeb hat gesagt, er denkt über meine Idee nach.«
»Wo will er denn einen Künstler finden, der erotische Bilder malt, aus denen er dann ein Puzzle anfertigt?«
»Na ja, er meinte, das könnte ein Knackpunkt sein.« Teaser hielt inne und fragte dann: »Wer ist Sparky?«
Auf dem Weg zurück in den Pfuhl grübelte Sebastian über Nadia nach. Warum sollte sie jetzt an Glorianna zweifeln? Warum darüber nachdenken, den Zauberern zu verraten, wo Belladonna sich aufhielt? Es sei denn, sie war tatsächlich von einem Geist vergiftet worden, der mächtig genug war, Zweifel und finstere Gedanken zu säen, wo es vorher keine gegeben hatte. Wie sollte er Glorianna und Lee beibringen, dass in Nadias Landschaften vielleicht etwas Gefährliches eingeschlossen worden war, wenn Glorianna Ephemera doch verändert hatte, um diese Orte abzuschotten und ihre Mutter in Sicherheit zu bringen?
Und wie sollte er seiner Cousine und ihrem Bruder beibringen, dass man ihrer Mutter nicht länger vertrauen konnte?
Schatten im Garten.
Die härteste Lektion, die eine Landschafferin lernen muss.
Die Gärten sind nicht nur Zugangspunkte, die man hübsch zusammengestellt hat. Sie enthüllen auch das Herz der Landschafferin, ihre Signaturresonanz, die über allen Landschaften in ihrer Obhut liegen wird. Eine Spiegelung dessen, was die Landschafferin ist. Ihr innerstes Wesen wird Gestalt annehmen in Pflanzen und Steinen und Wasser, so dass jeder es sehen kann.
Versucht das Herz zu lügen, wird der Garten dies ebenfalls offenbaren.
Aber der erste Versuch einer jeden Schülerin neigt dazu, eine hübsche Lüge zu sein. All ihre Pflanzen sind Symbole der Güte und Großzügigkeit, der Geduld und des Verständnisses. Der Liebe. Trotz größter Bemühungen der Schülerin ringt der Garten ums Überleben, denn die dunklen Gefühle, die sie leugnet, hallen ebenso in diesem begrenzten Raum wider und haben kein Fleckchen Erde, das sie ihr Eigen nennen können. Also mischen sie sich ein, bringen die Strömungen der Macht durcheinander, brechen durch die Erde, wo sie nicht hingehören. Und der Garten misslingt.
Es braucht Zeit, bis man den Mut findet, die Züge seines Wesens darzustellen, die nicht hell und strahlend sind. Aber man muss sie erkennen, muss wissen, dass man sie in sich trägt, denn die Landschaften, die man kontrolliert,
werden
ihre Resonanz tragen. Denn man selbst ist als Landschafferin das Sieb, durch das alle menschlichen Herzen der eigenen Landschaften zu Ephemera sprechen - und keines dieser Herzen lebt einzig im Licht.
So muss jede Landschafferin die dunkle Seite ihres eigenen Herzens erkennen und annehmen, um unsere Welt im Gleichgewicht zu halten.