Sebastian (20 page)

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Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

BOOK: Sebastian
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»Ich bin über eine Brücke gegangen. Ich hab versucht …« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er hat mir gesagt, ich solle zu ihm kommen.«
Sebastians Herz schlug hart in seiner Brust. Nein. Das konnte nicht sein. »Wer? Ewan?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Eine Stimme in meinem Kopf. Nachdem Mutter mir gesagt hat, dass ich weggeschickt werde, hab ich nur daran gedacht und …«
Eine Träne kullerte ihre Wange hinab. Sie flüsterte: »Ich wollte einfach einen Ort finden, an dem ich mich sicher fühle, an dem ich nicht die ganze Zeit Angst haben muss. Aber ich bin hier gelandet. Also bin ich wahrscheinlich doch ein schlechter Mensch.«
Die Landschafferinnen werden mich an einen schlimmen Ort schicken. Ich will doch nur -
Was? Was willst du?
Ich will mich sicher fühlen. Ich will geliebt werden. Ich will an einem Ort sein, an dem ich nicht die ganze Zeit Angst haben muss.
Komm zu mir.
Wächter und Wahrer.
Sebastian stieß seinen Stuhl zurück, half Lynnea auf und führte sein kleines Häschen, das etwas unsicher auf den Beinen stand, zum Bordell, das zwei Häuserblocks hinter Philos Restaurant in einer Seitenstraße lag. Nachdem man ihm am Empfang seinen Schlüssel ausgehändigt hatte, trug er Lynnea halb die Treppe nach oben und über den Flur bis zu seinem Zimmer im dritten Stock.
Dunkle, schwere Möbel. Rote Samtvorhänge um das
Bett und vor den Fenstern. Der Raum war groß genug, um sowohl einer Sitzgruppe als auch einem Bett Platz zu bieten. Es gab keinen Kamin, aber dafür führte eine Verbindungstür in ein Badezimmer, das er sich mit Teaser teilte, aus dessen Zimmer das Bad ebenfalls zugänglich war.
Männlich. Fremd. Ein Zimmer, das zum Verführen und für sexuelle Ausschweifungen bestimmt war.
Und hier stand er mit Lynnea, die in ihren zerrissenen, schmutzigen Kleidern eher einem erschöpften Kind glich als einer Frau, die sich nach einem heißen Ritt sehnte. Sie wirkte so fehl am Platze, dass es seinem Herzen einen Stich versetzte.
»Was trägst du darunter?«, fragte er und deutete mit einer Handbewegung auf ihren Rock und die Tunika.
»Ein Unterkleid.«
Er hoffte, dass sie etwas mehr anhatte, aber er würde nicht fragen.
Er führte sie zur Badezimmertür, blieb einen Moment stehen, um zu lauschen und stieß dann die Tür auf.
»Eine Toilette im Haus.« Sie klang beeindruckt. »Ich habe gehört, dass in der Stadt jetzt alle so etwas haben.«
»Wir sind vielleicht pervers, aber wir sind nicht zurückgeblieben. Wir haben sogar Elektrizität für die Stra ßenlaternen und in einem Teil der Häuser.« Und bis jetzt hatte er sich nie gefragt, warum es an einem Ort wie dem Pfuhl so etwas geben sollte.
»Ich sollte ein Bad nehmen.«
Sie klang zweifelnd - nicht wegen des Bades, sondern wegen des Gedankens, vollkommen nackt zu sein, während auf der anderen Seite der Tür ein fremder Mann wartete.
»Du kannst später baden.«
Wenn du nicht mehr Gefahr läufst, in der Badewanne einzuschlafen und zu ertrinken.
»Wasch dich einfach.«
Sie wurde rot. Er zog sich zurück.
Er beschäftigte sich damit, die Decken zurückzuschlagen und die Kissen aufzuschütteln und versuchte, sich auf diese einfachen Aufgaben zu konzentrieren, bis er von hier verschwinden konnte.
Warum musste er eigentlich gehen? Im Nebel der Erschöpfung und des Weins, der sie umgab, wäre es ein Leichtes, in ihr eine Lust und Sinnlichkeit zu entfachen, die ihr den Verstand raubte, und dann könnte er in den Gefühlen schwelgen, die er wecken würde, wenn er ihren Körper erregte.
Das war es doch, was er wollte. Oder etwa nicht?
Als sie ein paar Minuten später wieder ins Zimmer trat, war ihr Gesicht sauber - und sie trug nichts als das Unterkleid, von dem sie gesprochen hatte.
Lust brachte sein Blut in Wallung, sobald er sie erblickte, aber sie war vermischt mit etwas anderem, etwas Zartem, Unbekanntem. In ihm vermengte sich Begierde mit Achtsamkeit, und er verspürte den verzweifelten Wunsch, lange genug von ihr wegzukommen, um nachdenken zu können.
»Erwartest du jetzt, dass ich mit dir schlafe?«, fragte sie kleinlaut. Ergeben. Als ob sie erwartete, dass ihr Körper als Gegenwert für das Essen und das Bad dienen würde.
Er wurde wütend, obwohl er den Sinn darin nicht erkennen konnte. Aber zur Zeit ergab gar nichts Sinn, warum sollte es hiermit also anders sein?
Er wollte daran glauben, dass sie erfahren war, wollte glauben, dass sie ihm sich anbot, wollte glauben, dass er die Macht der Inkuben wecken und sich an der Lust laben konnte, die er in ihr entfachen würde.
Aber als er sie ansah, konnte er nichts von alledem glauben. Aber er konnte auch nicht gehen, ohne etwas zu tun, um die Begierde, die ihn innerlich auffraß, wenigstens ein wenig zu lindern, also trat er an sie heran, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie zärtlich.
Warm. Süß. Unschuldig, aber mit einer verborgenen Sinnlichkeit, die nur ein wenig Ermunterung brauchte, um aufzublühen.
Aber nicht jetzt.
Er wickelte sie in die Decke, wie Nadia ihn immer eingewickelt hatte, und ließ sie ohne Worte wissen, dass sie sicher und willkommen war.
»Schlaf jetzt«, flüsterte er.
Ihr fielen die Augen zu. Noch bevor er vom Bett zurücktrat, war sie eingeschlafen.
Er ging zurück zu Philo, bestellte einen Whisky und saß dann einfach nur da und starrte in die goldbraune Flüssigkeit in seinem Glas.
Ich will mich sicher fühlen. Ich will geliebt werden. Ich will an einem Ort sein, an dem ich nicht die ganze Zeit Angst haben muss.
Komm zu mir.
Niemand kam durch einen Fehler in den Pfuhl. Durch Zufall, sicher, aber nicht durch einen Fehler.
Aber sein kleines Häschen hatte Recht - sie gehörte nicht hierher, hätte den Pfuhl niemals gefunden, wenn er nicht gewesen wäre. Denn es war diese kurze Verbindung zu ihm, die sie in den Pfuhl gezogen hatte, die hier eine Resonanz geschaffen hatte, die es ihr möglich machte, die Grenze zu überschreiten.
Seine Schuld. Seine Verantwortung.
Teaser zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen. »Wo ist die Landmaus?«
»Schläft.«
»Das ging aber schnell.«
Sebastian starrte Teaser an, bis dieser nervös wurde und seinem Blick ausweichen musste. »Du wirst mir bei etwas behilflich sein. Ein kleines Spiel, sozusagen.«
»Sebastian, ich glaube nicht, dass die Maus wirklich bereit ist, für mehr als einen -«
Er hob die Hand, um Teaser zum Schweigen zu bringen.
Als Sebastian mit seinen Erklärungen fertig war, sprach nicht länger Nervosität aus Teasers Gesicht, sondern Unverständnis. »Verstehst du das?«
»Nein«, antwortete Teaser.
»Wirst du mir helfen?«
»Natürlich, wenn es das ist, was du willst.«
»Das ist es.«
Teaser sah in an und stand dann auf. »Ich werde es den anderen erzählen.«
Es dauerte nicht lange. Obwohl er es von seinem Tisch aus nicht sehen konnte, fühlte er, wie im Pfuhl auf einmal Betriebsamkeit aufkam.
Es war seine Schuld, dass sie hier war, und das war das Mindeste, was er für sie tun konnte. Wenn er schlau wäre, würde er sie zur Schule der Landschafferinnen bringen, sobald sie aufgewacht war. Aber er wollte nicht schlau sein. Er wollte -
brauchte -
dieses bisschen Zeit. Er hatte keine Macht in irgendeiner anderen Landschaft, aber hier im Pfuhl konnte er ihr ein paar Stunden an einem Ort schenken, an dem sie nicht die ganze Zeit Angst haben musste.
Danach würde er sie in dem Bewusstsein zur Schule bringen, dass sie niemals in den Pfuhl zurückfinden würde.
In dem Bewusstsein, dass sie irgendetwas in sich trug, das ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen würde.
Kapitel Acht
Das Mädchen schnäuzte sich in ein Taschentuch und sah zu den beiden Zauberern auf, die vor ihr standen. »Er ist so schnell die Treppe hinuntergerannt, dass ich ihn nicht mehr warnen konnte, dass die Stufen nass sind. Und er hat so verängstigt ausgesehen, als ob etwas Schreckliches hinter ihm her sei. Dann ist er ausgerutscht und mit einem Fuß im Henkel des Putzeimers hängen geblieben, und er …« Schluchzend brach sie auf dem Stuhl zusammen, der hinter ihr stand.
»Was hast du so früh am Morgen auf der Treppe gemacht?«, fragte Harland streng.
Die Tränen verschwanden, und an ihre Stelle trat die Andeutung gekränkten Stolzes. »Meine Arbeit, Herr. Wenn eine Treppe geputzt werden muss, machen wir das als Erstes, damit sie trocken ist, bevor die Leute auf den Beinen sind.«
»Möchtest du damit zum Ausdruck bringen, dass die Zauberer faul sind?« Harland klang verschnupft.
»Ich bin mir sicher, dass sie das nicht so gemeint hat«, sagte Koltak. »Die Bediensteten sind sich der Tatsache bewusst, dass wir die frühen Morgenstunden der Meditation oder dem Studium widmen und unsere Räume normalerweise nicht verlassen.«
»Das stimmt, Herr«, sagte das Mädchen und sah Harland aufrichtig an. »Niemand soll vor dem Frühstück kommen, um die Zimmer zu reinigen, also erledigen wir vorher unsere anderen Arbeiten.«
»Ich verstehe«, sagte Harland etwas besänftigt.
»Außerdem«, fügte das Mädchen hinzu, »benutzen die Zauberer diese Treppe nicht. Nur die Bediensteten. Er hätte überhaupt nicht auf der Treppe sein dürfen.«
»Ich denke, das ist alles, was wir wissen müssen«, sagte Koltak. Er warf Harland einen Blick zu und war erleichtert, als der Vorsitzende des Rats der Zauberer zustimmend nickte.
Er brachte das Mädchen zur Tür und öffnete sie, nicht überrascht, die Oberste Kammerfrau im Flur vorzufinden. Sie hielt stets eine schützende Hand über ihre Mädchen und hatte bereits mehr als einmal junge Zauberer in aller Öffentlichkeit dafür gescholten, dass sie ein Dienstmädchen offenbar nicht von einer Hure unterscheiden konnten.
Als sie mit dem Mädchen davoneilte, schloss Koltak die Tür und wandte sich zu Harland um. »Was denkt Ihr?«
Harland starrte zu Boden. Dann seufzte er. »Der Junge hatte auf der Treppe nichts zu suchen, aber es ist eine Abkürzung von den Lehrlingsquartieren zu den Studierzimmern. Also ich denke, Ihr hattet recht, zu behaupten, er hätte das Mundwerk eines Angebers. Wahrscheinlich war er auf dem Weg, irgendeinem Kameraden zu erzählen, dass er mir eine Nachricht überbracht hat.«
»Wenn es nicht mehr war als bloße Eile, die ihn dazu getrieben hat, die Treppe hinunterzurennen, hätte er das Mädchen und den Eimer gesehen, und er hätte gemerkt, dass die Stufen nass waren.« Koltak hielt inne. »Aber das Mädchen hat gesagt, er sah aus, als hätte er Angst gehabt.«
Ein undefinierbarer Ausdruck legte sich auf Harlands Gesichtszüge und verschwand sofort wieder. »Ihr denkt, ein Wächter der Dunkelheit hätte dem Jungen Angst eingejagt?«
»Ihr glaubt nicht an die Wächter der Dunkelheit?«
Harland hob eine Hand und ließ sie wieder fallen.
»Wenn die Menschen daran glauben, dass es Wahrer des Lichts und Wächter des Herzens gibt, wie könnte es da
keine
Wächter der Dunkelheit geben, um das Gleichgewicht herzustellen, um die dunklen Wünsche des Herzens zu gewähren? Ich persönlich denke, dass die Menschen ihre eigenen Entscheidungen treffen, ob zum Guten oder zum Schlechten. Wenn sie Trost darin finden, den Grund für ihre Not in etwas anderem als sich selbst zu sehen, dann sollen sie daran glauben.«
»Und so endet ein Moment zur falschen Zeit am falschen Ort damit, dass ein junger Mann eine nasse Treppe hinunterstürzt und sich den Hals bricht?«, fragte Koltak. Warum diskutierte er das, und vor allen Dingen, warum diskutierte er es mit Harland?
»Ja«, sagte Harland leise. »Höchst wahrscheinlich werden wir herausfinden, dass ein paar Klassenkameraden ihm einen Streich gespielt haben, der ihm mehr Angst eingejagt hat als beabsichtigt, und dass dies wiederum den Unfall verursachte, durch den das Leben des Jungen heute Morgen endete. Nein, ich denke nicht, dass wir etwas Geheimnisvolleres herausfinden werden, Koltak. Kein Wächter der Dunkelheit, keine dunkle Erscheinung. Nichts außer menschlichem Versagen.«
»Ich weiß.«
Als er in seine eigenen Räume zurückkehrte, konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass Harland versuchte, etwas zu verheimlichen, nämlich dass er keinen Moment lang daran geglaubt hatte, dass die Tragödie dieses Morgens durch einen menschlichen Fehler verursacht worden war.
 
Nigelle rannte den ganzen Weg zu ihrem von Mauern umgebenen Garten. Sie schlüpfte durch das Tor und hielt kurz inne, um Atem zu schöpfen und sich der Freude hinzugeben, die sie jedes Mal verspürte, wenn sie hier stand.
Geheimnisse. Ihr Garten steckte voller Geheimnisse. Dunkle Landschaften, gut versteckt, so dass die Lehrer bei einer oberflächlichen Betrachtung keinen Verdacht schöpfen würden. Nicht, dass in letzter Zeit die üblichen Kontrollen stattfanden. Zu viele seltsame Dinge waren geschehen.
Und sie war die Einzige, die wusste, weshalb.
Sie eilte zum hintersten Ende ihres Gartens und sah sich ungeduldig um. Wo war er? Er würde kommen. Er
musste
kommen. Er war so wundervoll, sie hielt es nicht aus, ihn einen ganzen Tag nicht zu sehen.

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