Kapitel Fünf
Schwimmend bewegte Er sich unter dem Sand, aber nur magiebegabte Wesen waren in der Lage, den wellenförmigen, dunklen Schatten wahrzunehmen, der das Land verdarb, durch das Er zog.
Jede Kreatur reagierte auf Licht und Dunkel, aber die Menschen mit ihrem lebhaften Verstand waren schon immer die schmackhafteste Beute gewesen - weil Er erschaffen worden war, um sie zu jagen.
Und aus diesem Grund war Er auch in die Landschaft der Knochenschäler zurückgekehrt, die Er mit dem Ort, den man den Pfuhl nannte, verbunden hatte. Voller Dunkelheit, ja, aber im Kern erstrahlte das Licht, weckte Seinen Hunger, seine Gier - und ließ Ihn erzittern. Der Pfuhl war von derselben mächtigen Resonanz erfüllt, die Ephemera die Kraft gegeben hatte, in der anderen dunklen Dämonenlandschaft nicht mehr als einen winzigen Ankerpunkt zuzulassen.
Das würde sich ändern. Die Inkuben und Sukkuben waren zu erbärmlichen Kreaturen verkommen, verseucht von ihrer menschlichen Beute. Aber die Reinblüter, die in Seinen Landschaften eingeschlossen gewesen waren, besaßen noch immer Macht, gehörten noch immer zur Dunkelheit. Sie waren
wahre
Jäger - und wenn sie den Pfuhl erst einmal erreicht hätten, würde ihre Anwesenheit die Resonanz der Landschaft verändern und das Licht schwächen.
Als Er an die Oberfläche stieg, schrumpfte Sein gewaltiger Körper, veränderte sich. Einen Moment später stand
ein gut aussehender, elegant gekleideter Mann auf dem rostfarbenen Sand.
Doch nach einem kurzen Augenblick der Stille ließ sein Wutschrei sogar die Knochenschäler vor Seinen Gefühlen fliehen, die so urtümlich und dunkel waren.
Dort, wo eine Gasse hätte sein sollen, war nichts als Stein. Riesige, heruntergefallene Felsen versperrten Ihm den Weg. Selbst wenn Er versuchen würde, über sie hinwegzuklettern, würde Ihn nichts als Fels erwarten, dessen war Er Sich sicher.
Als Er mit den Fäusten auf den Stein einschlug, fühlte Er dieselbe mächtige Resonanz, die sich auch im Kern dieser seltsamen Landschaft befand.
Keuchend presste Er Seine zerkratzten, blutigen Hände gegen den Fels und versuchte, die Angst zu ersticken, die langsam von Ihm Besitz ergriff.
Die Kreaturen, die sich Landschafferinnen nannten, waren nur noch so wenige, dass sie keine Bedrohung mehr darstellten, nichts weiter als unbedeutende Hindernisse, die Seinem Wunsch im Weg standen, ganz Ephemera in eine dunkle Landschaft voller Schrecken zu verwandeln, geboren aus den tiefsten Ängsten des Herzens.
Aber die Eine, die diesen Ort geschaffen hatte …
Eine der Wahren Feinde war noch immer dort drau ßen. Irgendwo.
Wieder in Seiner ursprünglichen Form schwamm Er unter dem Sand entlang, bis Er den Knochenhaufen erreichte, der Sein Ankerpunkt zum Schlupfwinkel der Landschafferinnen und Brückenbauer war.
Sein Körper schrumpfte, veränderte sich, bekam wieder acht Beine. Seine Vorderbeine hoben die Knochen an, aus denen Er eine Falltür geformt hatte, die in den Tunnel führte, der Ihn zurück zur Schule bringen würde.
Fünfzehn Jahre waren vergangen, seit sie diesen Pfad auf dem Schulgelände entlanggelaufen war, aber sie erinnerte sich noch deutlich an die Gefühle - die verschlagene Wut, der Neid und die Eifersucht, die tiefe Verzweiflung, die der Boden unter den Steinplatten zu verströmen schien. Gefühle, derer sich kein anderer Schüler und noch nicht einmal die Lehrer bewusst gewesen waren.
Heute fühlte es sich ein wenig anders an, gedämpft, so als ob diese Gefühle, die einst so stark unter dem Weg zum ältesten Garten der Schule pulsiert hatten, nun verteilt wie eine dünne Haut unter der Oberfläche lagen. Aber sie hatten ihre Macht nicht verloren.
Und als sie einen weiteren Schritt auf den verbotenen Garten zuging, erinnerte sie sich an die Warnung ihrer Mutter.
In die Schule zu gehen … Es wird eine aufregende Zeit in deinem Leben, Glorianna. Du wirst mit so vielen jungen Frauen zusammen sein, die die gleiche Kraft in sich tragen wie du, die dasselbe Lebenswerk vor sich haben. Und dann gibt es noch die jungen Männer, die zu Brückenbauern ausgebildet werden. Sie zu treffen, wird ebenfalls aufregend werden, wenn auch anders. Aber trotz der Macht, mit der du und die anderen zum Wohle Ephemeras umzugehen lernen werdet, seid ihr alle, was viele Dinge betrifft, noch Kinder. Und Kinder sind nicht immer schlau, obwohl sie doch stark und tapfer und erwachsen sein wollen. Aus diesem Grunde glauben sie manchmal nicht, dass die Dinge, vor denen die Erwachsenen Angst haben, Dinge sind, die man wirklich fürchten und die man ruhen lassen sollte. So war es, als ich zur Schule ging. Ich bezweifle, dass deine Klassenkameradinnen anders sein werden.
Also beherzige diese Warnung, Glorianna.
»Du da!«
Sie lief auf den Torbogen zu. Jeder Schritt dauerte einen Moment, dauerte ein Leben lang.
Die Lehrer werden euch zu einem Torbogen führen und euch den von Mauern umgebenen Garten mit dem schmiedeeisernen Tor zeigen. In diesem alten Garten befindet sich eine einfache Steinmauer. Sie werden euch allen sagen, dass ihr niemals durch diesen Torbogen gehen und euch niemals dem versiegelten Tor nähern dürft.
Aber Kinder werden immer ihren Mut und ihre Tapferkeit vor ihresgleichen unter Beweis stellen wollen. Einige von ihnen werden sich des Nachts hinaus schleichen und zum Torbogen gehen. Sie werden sich gegenseitig dazu bringen, ihren Mut zu zeigen, indem sie über den giftigen Boden voller Dornenbüsche und Pilze laufen - und sie werden das Tor berühren, um zu zeigen, dass sie keine Angst haben vor dem, was in diesen Steinmauern eingeschlossen wurde.
»Du da! Halt!«
Sie werden dich verspotten, dich beschimpfen, sagen, dass du dich fürchtest. Aber, Tochter, du darfst niemals durch diesen Torbogen treten. Du darfst dieses Tor nicht berühren. Du bist nicht … ganz … wie die anderen Schüler. Wir kommen aus einer sehr alten Familie, wir tragen ein Geheimnis, das von den Frauen unseres Hauses gehütet wird. Und um unserer ganzen Welt willen muss es ein Geheimnis bleiben.
Diese Kinder, deine Klassenkameradinnen … Sie werden nicht glauben, was die Lehrer ihnen erzählen - dass, was dort eingeschlossen ist, ihre Anwesenheit bemerken wird, wenn sie den Torbogen durchschreiten und die Erde betreten, die Er mit seiner Existenz geschändet hat. Sie werden nicht glauben, dass etwas, das man aus der Welt ausgeschlossen hat, sie wirklich wahrnehmen - oder ihnen schaden - kann.
Aber manchmal nimmt Er sie wahr, Glorianna, und Er kann ihnen schaden. Mit jenen, die sich Ihm ohne den Respekt nähern, der einem mächtigen Feind gebührt … geschehen … Dinge. Menschen werden von der Welt verschluckt,
verlieren sich in den Landschaften, anstatt die Reise ihres Lebens fortzusetzen. Sogar Brückenbauer. Sogar Landschafferinnen.
»Du da!«
Was ist in dem Garten eingeschlossen, Mutter?
Der -
Unter ihrem Fuß bewegte sich eine Steinplatte, gerade so viel, um die Erinnerungen zu vertreiben und sie ihre Umgebung mit schmerzhafter Klarheit wahrnehmen zu lassen.
Sie sah nach unten, hob dann vorsichtig den Fuß und trat einen Schritt zurück. Anstatt mit harter Erde war der Spalt zwischen den Steinplatten mit rostfarbenem Sand gefüllt.
Jemand mit schweren Stiefeln näherte sich ihr von hinten.
Sie betrachtete das Erdreich um den Torbogen herum - und erschauderte.
Eine Hand packte ihren Oberarm und drehte sie herum, bis sie einem strengen Mann in mittlerem Alter ins Gesicht sah, der ein Brückenbauer-Abzeichen an seiner Tunika trug.
Nicht streng, entschied Glorianna, als sie sein Gesicht betrachtete. Aber ernst. Besorgt. Ängstlich.
»Was machst du hier?«, fragte er. »Dieser Teil der Schule ist jedem verboten. Das solltest du wissen, Landschafferin.«
Natürlich wusste er, dass sie eine Landschafferin war. Er konnte die Macht in ihr spüren, genauso wie sie auch ohne das Abzeichen erkannt hätte, dass er ein Brückenbauer war.
»Die Mauer wurde durchbrochen«, sagte sie. »
Er
ist dort draußen in der Welt, Brückenbauer, und die Landschaften, die von diesen Mauern versiegelt waren, sind nicht länger eingeschlossen.
Er
ist nicht länger eingeschlossen.«
»Unsinn. Die Mauer steht schon seit Jahrhunderten.«
»Die Mauer wurde durchbrochen.« Sie zeigte mit einem Finger in Richtung Torbogen. »Sieh den Boden an. Wenn alles so wäre, wie es sein sollte, dürfte
das
nicht möglich sein.«
Sein Blick folgte ihrem Finger - und sie spürte, wie er zu zittern begann.
Rechts des Pfades war der Boden im Schatten der Mauer mit jungen Pilzen übersät. Zur Linken sprossen Triebe aus den fauligen Früchten der Dornenbüsche.
Er schüttelte den Kopf. »Die Magie -«
»Ist nicht mehr stark genug, um aufzuhalten, was Er geschaffen hat.« Mit einem Ruck befreite sie ihren Arm aus seinem Griff. »Du musst die Landschafferinnen warnen! Sie sollen die Landschaften unter ihrer Aufsicht bewachen und sie im Licht halten, wie stark die Resonanz der Bewohner, die sich den dunkleren Gefühlen des Herzens hingeben, auch immer sein mag. Du musst den Brückenbauern befehlen, alle Brücken, die sie geschaffen haben, abzureißen und die Landschaften voneinander zu trennen. Es ist unsere einzige Chance, Ihn zu finden.«
»Wen zu finden?«, gab er zurück. »Du versuchst ein Gerücht zu verbreiten, einen Mythos -«
»Diese Mauer wurde nicht errichtet, um einen
Mythos
einzuschließen, Brückenbauer«, fiel sie ihm scharf ins Wort.
Er schien nachzudenken, bereit, sich der Vorstellung zu beugen, dass der Schrecken, der die ersten Landschafferinnen dazu gezwungen hatte, die Welt in Stücke zu zerschlagen, erneut über sie gekommen war, um seine furchtbare Macht zu entfalten und ganz Ephemera in ein albtraumhaftes Jagdgebiet zu verwandeln. Dann schüttelte er den Kopf, und sein Gesicht nahm einen sturen Ausdruck an. »Es gibt schon genug Aufregung wegen der Vorfälle, ohne -«
»Was für Vorfälle? Wann haben sie begonnen?«
»Vor drei Wochen, kurz nachdem Lukene verschwunden ist.«
Glorianna starrte ihn ungläubig an. »Lukene ist vor drei Wochen verschwunden, und niemand hat die Mauer überprüft?«
Aber er erwiderte ihren Blick, als hätte er sie eben erst gesehen. »Wo ist dein Abzeichen, Landschafferin? Du musst dein Abzeichen tragen, wenn du die Schule besuchst.«
Einen Moment lang musste er die Schande, das Aufblitzen alter Erinnerungen in ihren Augen gesehen haben.
»Du bist -«
Sie hob ihre Hand in einer heftigen Geste, um ihn zum Schweigen zu bringen. Es war nicht sicher, jemanden ihren Namen nennen zu lassen. Nicht hier. Nicht jetzt. »Es spielt keine Rolle, wer ich bin. Warne die Landschafferinnen, Brückenbauer, bevor es zu spät ist.«
»Und was soll ich ihnen sagen?«
»Dass der Weltenfresser in Ephemera jagt.«
Etwas bewegte sich unter dem Boden. Etwas Dunkles und Gefährliches.
Hatte Er ein Versteck in der Schule? Die Wahrscheinlichkeit, dass die Landschafferinnen hier in der Lage wären, die Grenzen wieder zu schließen, die Mauer wieder zu errichten und Ihn erneut einzufangen, war zu groß. Aber auf Grund von Ephemeras Beschaffenheit, war dies der einzige Ort, der Ihm Zugang zu allen Landschaften bot.
Zumindest zu allen Landschaften, die in den Gärten der Schule verankert waren.
Der Mann ihr gegenüber sah sie mit fiebrigem Blick an. Er sah krank aus. In seinen Augen spiegelten sich hässliche Emotionen wider - und wurden von seinem wahren Wesen nicht ganz vertrieben.
»Verlasse diesen Pfad, diesen Garten«, sagte sie mit leiser, drängender Stimme. »Warne die Landschafferinnen.«
Eine erneute Bewegung, diesmal näher.
Sie musste fort von hier.
Jetzt!
Sie drehte sich um, entfernte sich vom Torbogen und ignorierte die Rufe des Brückenbauers, der wohl seine eigenen Gründe hatte, ihr nicht zu folgen.
Sie hoffte zumindest, dass es noch seine eigenen Gründe waren.
Wächter und Wahrer, lass den Brückenbauer von diesem Garten ablassen und den Landschafferinnen ihre Warnung überbringen. Nicht, dass sie einer Warnung Glauben schenken würden, die von Belladonna kam. Sie war eine Ausgestoßene, eine »Bedrohung« der Sicherheit der Landschaften, aus denen Ephemera bestand.
Glorianna wäre nicht überrascht gewesen, wenn die Landschafferinnen entschieden, dass
sie
hinter den »Vorfällen« steckte. Schließlich konnte eine verbitterte Landschafferin, die irgendwie der Rechtsprechung der Zauberer entkommen war, nur Unheil und Schaden über die bringen wollen, die erreichen konnten, was ihr nicht möglich war - Anerkennung unter ihresgleichen und eine angesehene Stellung in der Welt.
Sie hatten sie verurteilt, weil sie einige der dunklen Orte der Welt zusammengefügt und um den Sündenpfuhl herum neu angeordnet hatte.
War sich auch irgendjemand der Tatsache bewusst, dass sie ebenso einige der mächtigsten Orte des Lichts miteinander verwoben hatte? Wusste irgendjemand, dass sie die Landschafferin war, deren Macht die Resonanz der Heiligen Stätten geschaffen hatte?
Sie erreichte den Kreis aus sandfarbenen Ziegeln und näherte sich der Sanduhr in seiner Mitte.
Die Landschafferinnen und Zauberer hatten sich all die Jahre gefragt, wie sie aus ihrem magisch versiegelten
Garten entkommen konnte. Dies hier war ein Teil der Antwort.
Man brachte den Schülern bei, dass die von Mauern umgebenen Gärten ihre Ankerpunkte in der Schule darstellten. Jede Verbindung, die sie zu einer der Landschaften Ephemeras herstellten, war in ihrem eignen Garten verankert, so dass sie von jedem dieser Orte in die Schule zurückkehren konnten, ohne eine Brücke überqueren zu müssen.
Kein Schüler hatte diese Lektion jemals hinterfragt. Auch die Lehrer hatten es nie getan, waren sie doch alle einst hier Schüler gewesen. Einen anderen Ankerpunkt zwischen ihrem Garten und den Klassenräumen zu haben, schien ihr eine praktische Einrichtung zu sein, um ein wenig mehr Zeit zum Arbeiten zu haben, ohne den ganzen Weg zum Schulgebäude zurücklaufen zu müssen, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Sie hatte die Sanduhr als zweiten Ankerpunkt gewählt, einfach weil sie ihr gefiel, weil sie die Wärme des Steines mochte. Und weil sie sie tagtäglich daran erinnerte, dass Dunkelheit und Licht sich in einem ewigen Tanz umschlungen hielten, und dass es das Eine niemals ohne das Andere gab.