Sebastian (11 page)

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Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

BOOK: Sebastian
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Gefangen. Sah Koltak ihm zu, während er mit seinem Willen und der Magie der Zauberer das Tor verschlossen hielt, bis …? Bis Wachen vorbeikamen und beschlossen, dass ein Mann, der nicht in der Lage war, den Hof zu verlassen, gefährlich sein musste und zur näheren Befragung festgehalten werden sollte? Oder schlimmer, Koltak würde auftauchen und ihnen befehlen, ihn zur Befragung zurück in diesen Raum zu bringen. Dann würde man die Fensterläden verriegeln und die Tür abschließen - und niemand außer Koltak wüsste, dass er in diesem Raum gefangen war. Oh, die Wächter würden es wissen, aber sie würden sich nicht darum kümmern, was mit einem Inkubus geschah, der es gewagt hatte, die Stadt zu betreten.
Ihn festnehmen. Einsperren. Töten.
Er musste hier raus!
Reise leichten Herzens, reise leichten Herzens, reise leichten Herzens.
Sebastian trat einen Schritt vom Tor zurück und schloss die Augen. Ein einfaches Tor, dazu bestimmt, sich nur von innen öffnen zu lassen. Ein einfaches Schloss, das vielleicht ein wenig eingerostet war. Das war alles. Ein einfaches Tor, das auf seine Berührung hin ganz leicht aufschwingen würde. Dann würde er diesen Hof verlassen, diese Stadt verlassen … und nach Hause gehen.
Sebastian öffnete die Augen und griff nach dem Tor. Ein leichter Ruck. Ein leises Klicken, als das Schloss sich öffnete.
Das Tor schwang auf.
Sein Herz klopfte wild, aber er ging so ruhigen Schrittes durch das Tor und den Tausend Stufen entgegen, als ob er über die Hauptstraße des Pfuhls schlendern würde.
Als er den steinernen Weg erreichte, der zu den Stufen führte, warf er einen Blick zurück - und sah Wachen, die auf die Halle der Bittsteller zueilten.
Ihr Interesse an mir geht nicht über bloße Neugier hinaus, ebenso wie meines an ihnen,
dachte Sebastian. Trotz seiner Bemühungen, gleichgültig zu erscheinen, ob die Wachen ihn bemerkten oder nicht, wurden seine Schritte schneller.
Meine Aufgabe in der Stadt ist erfüllt. Ich gehe nach Hause, um etwas zu essen und einen schönen Abend mit Freunden zu verbringen. Ich gehe nach Hause. In den Pfuhl.
Kein Geschrei ertönte hinter ihm, und als er die Treppe erreichte, zitterte er vor Erleichterung. Auf der obersten Stufe hielt er an und nahm sich etwas Zeit, um seine Gelassenheit wiederzugewinnen - jedenfalls, soweit das überhaupt möglich war, solange er sich noch innerhalb der Stadtmauern befand.
Er wäre umsonst aus der Halle der Zauberer entkommen, wenn er jetzt die Treppe hinunterfiele und mit gebrochenen Knochen an ihrem Fuß ankommen würde.
Er atmete langsam ein und wieder aus. Dann setzte er seinen Fuß auf die erste Stufe und trat die Heimreise an.
 
Koltak sah die Wachen um das Tor im Innenhof herumlaufen. Es hatte keinen Sinn, ihrem Unterbewusstsein ein zweites Mal etwas einzuflüstern. Es gab keinen konkreten Anlass mehr, dem »Instinkt« oder der »Intuition« nachzugehen, die sie dazu gezwungen hatte, das Tor neben der Halle der Bittsteller zu überprüfen. Selbst wenn er sie noch einmal antrieb, war Sebastians Vorsprung bereits so groß, dass er den Wachen lange genug entkommen konnte, um die Stadt zu verlassen.
Er trat zurück in den Raum und schloss die Tür, dann löschte er die Kerze. Er ging zur Wand und öffnete mit der Erfahrung all der Jahre, die er schon in der Halle der Zauberer lebte, das versteckte Schloss der Geheimtür.
Sobald die Tür aufschwang, schlüpfte Koltak aus dem Raum, hielt dann aber lange genug inne, um sicherzugehen, dass sie wieder fest verschlossen war, bevor er durch die Flure davoneilte, die meist nur von Bediensteten genutzt wurden.
Welcher Wächter ihn auch immer beschützte, er dankte ihm, dass er seine Zimmer erreichte, ohne auf jemanden zu treffen, der sich fragen könnte, warum er aus der Richtung kam, in der die Halle der Bittsteller lag - und das Gefängnis.
Nicht, dass sich die anderen Zauberer lange fragen müssten. Morgen früh würden
alle
wissen, wer nach ihm verlangt hatte. Es wäre anders, wenn er ihn hätte festhalten können, aber so …
Koltak starrte aus seinem Wohnzimmerfenster. Es sah in die falsche Richtung, aber er starrte trotzdem hinaus, als ob er allein damit Sebastian irgendwie finden könnte, bevor dieser die Stadt verließ. Schon wieder.
Dreißig Jahre lang war er für diesen Fehltritt bestraft worden, für diesen Hunger nach sexueller Befriedigung, der menschliche Frauen zu wenig mehr machte, als zu einem Behälter für den Samen eines Mannes. Viele Zauberer hatten sich mit Sukkuben vergnügt.
Viele.
Aber ihre Liebschaften hatten nicht beinahe die Machtstruktur zum Einsturz gebracht, die den Zauberern ihren Platz in der Welt sicherte, die sie zu Rechtsbringern machte.
Wie könnte etwas menschlich an mir sein, mit einem Sukkubus als Mutter und dir als Vater?
Nichts als im Zorn dahingesagte Worte. Sebastian kannte die Wahrheit nicht.
Konnte
nicht wissen, was seine Existenz bedeutete. Tagtäglich wurden die Geheimnisse, die in der Halle der Zauberer bewahrt wurden, offen
zur Schau gestellt, weil dieser Welpe zur Welt gekommen war. Oh, die meisten Menschen würden nicht erkennen, was es bedeutete, dass eine Zusammenkunft eines Zauberer mit einem Sukkubus Früchte getragen hatte, aber die Zauberer wussten, dass es sie als das brandmarkte, was sie waren.
Nicht ganz menschlich. Wesen, deren Fähigkeit, andere Kraft ihres Geistes zu beeinflussen, denselben Ursprung hatte, wie die Macht der Verführung, welche die Inkuben und Sukkuben nutzten, um ihre Beute anzulocken.
Wir haben für unsere Geheimnisse gezahlt. Wir zahlen jeden Tag, indem wir die Ordnung aufrecht erhalten, indem wir für Gerechtigkeit stehen.
Wir haben bezahlt.
Aber heute Nacht hatte sich das, was er persönlich am meisten befürchtet hatte, schließlich bewahrheitet.
Sebastian war nicht nur ein Inkubus; er verfügte auch über ein gewisses Maß an Magie. Sonst hätte er das Tor nicht öffnen können, wäre nicht in der Lage gewesen, Koltaks geistigen Griff so schnell abzuschütteln, dass die Wachen zu spät kamen.
Sollten die anderen Zauberer erkennen, dass Sebastian dieselbe Magie in sich trug wie die Rechtsbringer, wäre alles, was er, Koltak, in den letzten dreißig Jahren dafür getan hatte, seinen aus Lust geborenen Fehler wiedergutzumachen und zu beweisen, dass er die Autorität verdiente, nach der er sich schon immer gesehnt hatte, vergebens. Er hatte also wirklich nur eine Möglichkeit.
Egal wie, Sebastian musste ein für allemal aus dem Weg geschafft werden.
 
Sebastian befand sich einen Steinwurf vom Südtor entfernt, als er die Glocke zwölf Mal läuten hörte. Mitternacht. Um Mitternacht wurden die Stadttore verschlossen, und bis zum nächsten Morgen konnte niemand die Stadt betreten oder verlassen.
Eine Welle der Erleichterung erfasste ihn. Querfeldein lief er weiter Richtung Osten. Nicht, dass es einen Unterschied machen würde, wenn Koltak ihm die Wachen zu Fuß oder zu Pferd nachsandte, aber er hatte das Gefühl, dass er abseits der Straße eine höhere Chance hätte, dieser Landschaft zu entfliehen, bevor sein Vater - er lachte leise und bitter auf - eine Möglichkeit fand, ihn dazu zu zwingen, hier zu bleiben.
Außerdem gab es entlang der Straße keine nähere Brücke, als die, welche er überquert hatte, um zu diesem Fleckchen Erde zu gelangen. Dort draußen musste es noch mehr Brücken geben. Vielleicht würden diese ihn nicht zurück zum Pfuhl bringen, aber sie würden von hier wegführen, und das war im Moment das Wichtigste. Es sei denn …
Aber wer würde während seiner Abwesenheit noch sterben, wenn er auf dem Weg aufgehalten werden würde?
Er
musste
zurück in den Pfuhl!
Er hatte bereits ein ganzes Stück zwischen sich und die Stadt gebracht, als ein Wolkenschleier den Mond verdunkelte. Er erstarrte, blieb fest mit beiden Füßen auf dem Boden stehen. Das Land fühlte sich plötzlich weich und seltsam an, als ob der Boden voller versteckter Fallen wäre. Welch närrischer Gedanke. Er hatte die letzten fünfzehn Jahre in einer Landschaft verbracht, in der die Sonne niemals aufging. Er war es gewohnt, bei Nacht zu reisen.
Aber das hier war anders. Er kannte die Gefahren, die in und um die dunkle Landschaft herum lebten, die er sein Zuhause nannte. Hier draußen … Hier draußen
stimmte
irgendetwas nicht.
Ein Zittern durchlief seinen Körper. Seine Haut fühlte sich feucht an, als ob ihn etwas gestreift hätte, dessen schleimige Berührung ihn krank machte.
Er versuchte, sein Unbehagen abzuschütteln und bemühte
sich, irgendein Geräusch oder eine Bewegung wahrzunehmen, die das Gefühl, dass etwas hier nicht stimmte, bestätigen könnte. Alles, was er hörte, war das Plätschern von Wasser. Er zwang sich dazu, loszulaufen, und ging dem Geräusch nach, bis er auf einen Bachlauf traf. Er war schmal genug, dass man bis zum Wasser hinunterklettern und hinüberspringen konnte, aber zwei einfache Holzplanken führten von einem Ufer zum anderen. Weil die Planken weder dick noch breit genug aussahen, um auch nur den kleinsten Wagen auszuhalten, konnte es nur einen Grund geben, aus dem sie dort lagen.
Ein Brückenbauer hatte diese Planken über den Bach gelegt und seine Magie genutzt, um eine Verbindung zwischen den Landschaften herzustellen.
Sebastian sah sich die Planken an. Es musste eine Resonanzbrücke sein. Diese Art von Brücken fand man häufiger an Orten, an denen man keinen Übergang erwartete. Was bedeutete, dass er überall sein könnte, wenn er die Brücke auf der anderen Seite wieder verließ.
Geh einfach hinüber,
dachte Sebastian, als er beide Arme durch die Riemen seines Bündels steckte und es auf seinem Rücken zurechtrückte.
Du kannst nicht an einem Ort enden, der nicht bereits Teil deines Herzens ist. Das bringt man den Kindern doch bei, oder? Dass man immer dort hingelangt, wo man auch hingehört? Das hat dir Koltak erzählt, als er dich in diese dreimal verfluchte Stadt zurückgeschleppt hat. Aber Nadia hat immer gesagt, das Leben sei eine Reise, und dass die Landschaften den Verlauf dieser Reise widerspiegeln. Dass die Reise dich, auch wenn schlimme Dinge geschehen, letzten Endes an den Ort führt, an den dein Herz gehört.
Er sah zurück zur Stadt der Zauberer. Er hatte es damals nicht verdient, in diesen Mauern eingeschlossen zu werden, nur weil er geboren worden war und der Sukkubus, der ihn zur Welt gebracht hatte, ihn seinem Vater übergeben hatte, anstatt ihn irgendwo liegen zu lassen.
Er hatte die Grausamkeiten oder den Schmerz, der seine Kindheit bestimmt hatte, nicht gebraucht.
Aber wenn diese Dinge ihn nicht geformt hätten, hätte er dann Nadia, Lee, oder Glorianna kennen gelernt? Wäre er am Ende im Pfuhl angekommen, dem Ort, an den er gehörte?
Sebastian schüttelte den Kopf. Sinnlose Überlegungen. Er verbrachte zu viel Zeit damit, über sich selbst nachzudenken.
Auf einmal wurde er wieder von diesem Gefühl des Unwohlseins ergriffen. Die Erinnerung an die Gasse, an den Sand unter seinen Füßen ließ ihn schaudern. Und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde das Gefühl stärker, dass er vielleicht nie wieder eine Landschaft sehen würde, die er kannte, wenn er nicht
jetzt
die Brücke überquerte.
»Wahrer des Lichtes und Wächter des Herzens, bitte erhört mich«, flüsterte er, als er einen Fuß auf die Planken setzte. »Ich muss zurück in den Pfuhl. Ich
muss
zurück in den Pfuhl.«
Er rannte über die Brücke.
Nacht. Offenes Land. Nichts war so anders, als dass er hätte sagen können, wo er war.
Sein Körper war schon in Bewegung, noch bevor er sich für eine Richtung entscheiden konnte. Vielleicht, weil es nur eine Richtung gab, die wirklich wichtig war -
Weg von der Brücke.
 
Als flacher, wellenförmiger Körper, floss Er mit der gleichen Leichtigkeit unter der Erdoberfläche entlang, wie er auch Wasser durchmessen hatte, und bewegte sich schnell auf die Erhebung im Boden zu.
Er hatte die Dunklen gefunden - die Wesen, welche die Dunkelheit in die Herzen der Menschen gebracht und die Welt dazu gezwungen hatten, Ihn ins Leben zu rufen.
Dann wurde Er langsamer, drehte Sich um und bewegte Sich zurück auf das bisschen Wasser zu, das zu unbedeutend war, um Kreaturen zu beherbergen, die Ihm unterstanden.
Für einen kurzen Moment, als Er durch das Wasser geschwommen war, hatte Er etwas … Vertrautes wahrgenommen.
Jetzt war da nichts mehr. Und trotzdem …
Ein kleiner Teil von Ihm veränderte die Form. Ein Tentakel streckte sich aus, brach durch den Boden, wie eine seltsame, bösartige Pflanze. Die Spitze ertastete die Planken, die noch immer die Resonanz des Herzens der Person trugen, die gerade eben in eine andere Landschaft hinübergetreten war. Der Tentakel schob sich aus dem Erdreich und wurde länger, als die Spitze sich über die Planken bewegte.
Ja, Er erkannte die Resonanz dieses Herzens. Einer derer, die es geschafft hatten, sich Seinem Versuch zu entziehen, die Gasse in diesem dunklen Jagdgebiet, das sie den Pfuhl nannten, zu verändern.
Die Spitze des Tentakels erreichte die andere Seite und wühlte sich in den Dreck, um die Resonanz der anderen Landschaft aufzunehmen.
Ah! Er erkannte diesen Ort. Erst vor kurzem hatte Er in dieser dunklen Landschaft gejagt. Die Kreaturen, die hier lebten, waren ein köstliches Festmahl gewesen, obwohl sie nicht ganz so schmackhaft waren, wie menschliche Beute.
Nichts war so schmackhaft wie menschliche Beute.
Seine Macht floss durch den Tentakel. Pulsierte durch die Spitze, die sich in den Boden bohrte.
Erstaunt bemerkte er, dass die Welt versuchte, sich Seiner dunklen Resonanz zu widersetzten. Er versuchte, die Dunklen Strömungen, die durch die Landschaft flossen, anzuzapfen und verstärkte Seine Anstrengungen. Dann zog Er Sich zurück. Vorsichtig, beinahe ängstlich.
Durch die Dunklen Strömungen floss eine mächtige Resonanz. Etwas, das viel stärker war, als alles, was Er im Schlupfwinkel Seiner Feinde kennen gelernt hatte, die Ihn vor so langer Zeit eingesperrt hatten.
Nicht willens, ganz aufzugeben, versuchte Er es erneut und bohrte Seinen Tentakel wieder in den Boden neben den hölzernen Planken.

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