Authors: Joseph D'Lacey
Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction
Eilig dachte er darüber nach, wie er die kleine Schar von Getreuen möglichst effektiv einsetzen konnte. Schließlich fand er die Lösung. Er flüsterte in Staiths Ohr, und die Botschaft verbreitete sich rasch. Ohne, dass es ihre Widersacher sehen konnten, fassten sie sich hinter ihren Rücken an den Händen und schöpften ein letztes Mal Kraft aus der
Gemeinschaft. Ein letztes Mal versicherten sie sich ihrer Freundschaft.
»Jetzt!«, schrie Collins.
Die dreißig dürren, Lumpen tragenden Gefährten nahmen das Fronttor ins Visier, überwanden das Hindernis und stürmten hinein. Dort teilten sie sich in zwei Gruppen auf: Fünfzehn von ihnen umgingen den Mob auf der rechten Seite, die anderen fünfzehn auf der linken. Collins sah den Ausdruck entrüsteter Ungläubigkeit auf Torrances Gesicht, als er an dem Mann vorbeistürmte. Das Manöver erwies sich als der perfekte Schachzug. Nun mussten die Schwarzmäntel und Fleischhauer den Kampf an zwei Flanken aufnehmen, und Brunos Trupp blieb nichts übrig, als sich ihnen anzuschließen, statt sie von hinten anzugreifen.
Noch nie in ihrer kurzen Geschichte als Kämpfer waren Collins' Jünger in der Offensive gewesen und mussten den ersten Schlag landen. Pastoren und Schwarzmäntel hatten keine Einladung gebraucht. Die Fleischhauer bildeten da keine Ausnahme. Rasend vor Wut griffen sie an. Der schiere Hass führte jede einzelne Waffe. Die Gesichter der Gefährten strahlten die gleiche Gelassenheit aus wie immer, während sie zwischen den Hieben und Stößen ihren Tanz aufführten.
27
Parfitt öffnete ein weiteres Gatter.
Von einem Bullenpferch zum nächsten schlitternd, schlug er die Bolzen auf ― ohne dabei wahrzunehmen, dass er sich die Handflächen mit jedem weiteren Hieb mehr zerfleischte. Er schwitzte und geriet in Panik. Es blieb keine Zeit mehr. Nach der Hälfte der Verschläge fiel ihm auf, dass sich nichts darin bewegte. Es kamen keine Bullen aus den Pferchen.
Zu ängstlich.
Was tun?
Mach schon, Parfitt, denk nach.
Es hatte keinen Zweck, er musste erst einmal sämtliche Gatter öffnen. Er sprintete zum nächsten. Innerhalb von zwei Minuten hatte er jeden Bullenpferch geöffnet. Doch es tat sich immer noch nichts. In diesem Moment hörte er das Klopfen. Es klang wie die zusammenhangslosen Geräusche, die die Herden manchmal auf den Brettern der Verschläge oder den Zaunpfosten produzierten, bloß wesentlich lauter. Egal, er konnte sich jetzt nicht damit aufhalten. Er musste die Bullen befreien, das war alles, was jetzt zählte.
»Ihr seid frei! Lauft weg! Greift sie an!«
Er hämmerte gegen die Wände des nächstgelegenen Pferchs. Dann blickte er hinein.
Er war leer.
Er rannte zu dem nächsten in der Reihe.
Das Gleiche.
»Verdammt. Oh, verdammt, nein. Jetzt schon?«
Er sprintete weiter zur nächsten Reihe, bog um die Ecke und rannte geradewegs in ein riesiges nacktes Etwas, dessen Bauch ihn wie eine Gummiwand zurückschleuderte. Er fiel auf seinen Hintern ins Stroh. Vor ihm erhob sich die gigantische Gestalt eines Bullen, den jeder kannte: BLAU-792, der Vater der Herden, der stärkste Bulle unter allen Auserwählten.
Hinter ihm erschienen weitere. Nicht annähernd so prachtvoll, nicht annähernd so imposant, aber ausnahmslos gefährlich. Jeder dreimal so schwer wie ein kräftiger Fleischhauer und gut einen Kopf größer.
Parfitt lachte.
»Scheiße, das ist fantastisch.«
Sein Lachen erstarb. Er war ein einzelner Schlachtarbeiter ohne die geringste Erfahrung im Umgang mit Bullen, der vor einem Dutzend dieser Monster im Dreck lag. Er erinnerte sich daran, wie die Kampfbullen einander auf die Köpfe getreten hatten, um ihre Gegner zu töten. BLAU-792 kam näher, und die anderen folgten ihm. Im Stall herrschte Totenstille. Das Klopfen hatte aufgehört. Alles, was er jetzt noch hörte, war sein hämmerndes Herz und das Schlurfen der vierzehigen Füße im Stroh.
Er begann zu brabbeln.
»Wartet«, sagte er. »Nicht ich bin es, den ihr wollt. Ich bin derjenige, der euch rausgelassen hat. Es sind die da draußen. Unten am Tor. Wenn ihr sie seht, wisst ihr, wen ich meine. Ihr könnt sie gar nicht verfehlen.« Er krabbelte rückwärts über den Boden, während er gleichzeitig versuchte, aufzustehen. Dann stieß er gegen ein paar Beine.
»Hast du sie befreit?«, fragte der Besitzer dieser Beine.
Parfitt verdrehte den Hals und erkannte Richard Shanti, den Eispickel. Alles, was er tun konnte, war zu nicken.
»Damit hast du uns ein paar kostbare Minuten verschafft. Komm mit, lass uns weitermachen.«
Parfitt deutete auf die sich nähernden Bullen. »Was ist mit ihnen?«
»Oh, die wissen, was sie zu tun haben.«
Als alle Bullen befreit waren, führte Shanti Parfitt zum Gehege der Milchkühe. Bloß ein einziger Riegel trennte sie von der Freiheit. Parfitt blickte immer wieder über die Schulter, um sich zu versichern, was die Bullen taten. Bisher waren sie Shanti gefolgt, als wäre er der größte Bulle von allen. Als sie sahen, wie die Kühe aus dem Gehege strömten, erstarrten sie einen Moment. Dann wurden die Bullen ein Teil der Herde, suchten fieberhaft Kontakt mit den Kühen, berührten sie und seufzten in den eindringlichsten Tönen. Er sah wie BLAU-792 geradewegs auf WEISS-047 und ihr Kalb zustrebte, das seit dem Stromausfall an ihrer Seite war. Parfitt hatte nie zuvor gesehen, dass die Auserwählten sich liebkosten und umarmten. Es ließ seine Seele erbeben. Er schlug eine Hand vor den Mund.
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit, mein Sohn«, sagte Shanti. »Wir müssen die Gatter der Weiden öffnen. Wir müssen sie alle herauslassen.«
Parfitt nickte. Er war unfähig zu sprechen.
Shanti begab sich zu einer der Brüstungen des Geheges und begann mit den Fingerhüten an seinen Fingern darauf herumzuklopfen. Der Rhythmus klimperte glockenhell durch die Luft. Shantis Atmen verwandelte sich in ein Zischen und Seufzen. Die Auserwählten wurden still und hörten zu. Niemals hatte Parfitt gedacht, dass so etwas möglich war. Shanti sprach zu ihnen, und sie schienen alles zu verstehen. Als das Klopfen verstummte, rannte Shanti zum rückwärtigen Teil der Fabrik. Parfitt hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Die Herden folgten ihnen.
Als sie das letzte Gebäude, das Schlachthaus, erreichten,
hob Shanti die Hand. Alle stoppten hinter ihm. Er lugte um die Ecke des Schlachthauses, um sich zu vergewissern, dass sie niemand sah. Auf dem Hof tobte eine chaotische Schlacht. Zwei große Gruppen bewaffneter Männer stürmten auf Collins' winzige Truppe ein. Wo immer sich auch ein Grüppchen von Anhängern des Propheten zusammengeschart hatte, waren sie ― soweit Shanti erkennen konnte ―von den Horden der Schwarzmäntel und Arbeiter umzingelt. Sie konnten nun also wieder von allen Seiten angreifen. Im Augenblick sah es noch so aus, als würden Collins' Jünger ihre Gegner mit der gleichen Effizienz niedermachen wie bisher, und dabei selbst nur geringen Schaden erleiden. Shanti hoffte immer noch, dass sich das Blatt zu ihren Gunsten wenden würde, bevor Collins und seinen Leuten die Kraft ausging.
Aber es gab weder eine Möglichkeit für ihn und die Herden, die Leerfläche zwischen Schlachthaus und Weiden ungesehen zu überqueren, noch glaubte er, dass er alleine loslaufen konnte, ohne bemerkt zu werden.
Er zog sich zurück und lehnte sich gegen die Wand.
»Was nun?«, fragte Parfitt.
Shanti schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht sollten wir riskieren, dass einer von uns zu den Weiden rennt, um die Gatter zu öffnen. Oder wir könnten absichtlich die Herde über den Hof treiben, um sie abzulenken.« Während er es sagte, ahnte er bereits, dass es nicht funktionieren würde. Die Herde war unbewaffnet, die Auserwählten waren gar nicht in der Lage, mit ihren verstümmelten Händen Waffen zu halten. Er würde keinen von ihnen grundlos einem solchen Risiko aussetzen. Das Einzige, was ihnen jetzt noch helfen würde, war eine göttliche Intervention. Shanti war sich bewusst, dass der Gott, der Abyrne erschaffen hatte, nicht gerade
scharf darauf sein durfte, ihnen Beistand zu leisten. Aber vielleicht gab es ja einen größeren Gott als diesen, einen gütigeren, gnädigeren Gott, der Frieden genauso sehr herbeisehnte wie er und Collins.
Er linste erneut um die Ecke, um zu prüfen, ob es nicht doch einen Weg gab, die Passage zu durchqueren. In diesem Augenblick fiel der erste von Collins' Anhängern. Durch eine Lücke zwischen Dutzenden von Köpfen und Schultern konnte er mit ansehen, wie der Fleischerhaken sich hob und herabsauste. Er traf einen von Collins' Leuten direkt zwischen Hals und Schulter. Shanti hörte, wie die Fleischhauer ihren Triumph herausbrüllten, nachdem Tausende gegen den Gegner geführte Hiebe ins Leere gegangen waren. Nachdem der Haken die lumpige Gestalt getroffen hatte, wurde sie daran zwischen die Horden der MFP-Arbeiter gezerrt. Klingen leuchteten stumpf im Dämmerlicht des Nachmittags auf, erst aschfahl, dann blutig.
Shanti schloss die Augen und machte sich zum Sprint bereit.
Eine Gestalt kam von der Weide auf sie zugetorkelt. Sie war ganz in Rot gekleidet, auch wenn sie so mit Unrat und Morast verschmiert war, dass die Farbe kaum noch zu erkennen war. Ihr Gesicht war bleich und eingefallen, ganz anders, als er es in Erinnerung hatte. Ihr folgten, langsam und noch ein wenig konfus die Herden der Auserwählten, die in Massen von den Weiden in die Freiheit strömten.
Alle.
Ausnahmslos.
Gott segne dich, Mary Simonson, dachte er.
Er drehte sich um und begann, gegen die Wand des Schlachthauses zu klopfen. Er nickte und seufzte den Bul
len und Kühen auf seiner Seite zu und einer nach dem anderen schloss sich ihm an. Tausende von Fingerstümpfen trommelten unisono die Botschaft, die Shanti den Herden zukommen ließ. Hunderte von Kehlen krächzten codierte Seufzer. Da die Schlachthauswand nicht genug Platz für alle bot, klopften viele von ihnen ihre Rhythmen auf die weiter hinten liegenden Metallzäunen. Andere auf die Wellblechwände der Lagerhäuser und Schuppen.
Parfitt beobachtete die Reaktionen der auf sie zustrebenden Herden, als sie die Rhythmen hörten, die für ihn mit einem Mal wie eine fremdartige Musik klangen. Er sah, wie Pastorin Mary Simonson in der Nähe der Umzäunung zusammenbrach, sah das Lächeln auf ihrem Gesicht. Einen traurigeren Anblick hatte er noch niemals gesehen. Die Herden drängten vorwärts, und er verlor den Pastor aus den Augen.
Zehntausende Auserwählte fluteten durch den Zaun auf den Hof.
Der Kampf kam zum Erliegen.
28
Dirigiert vom Klopfen und Seufzen der Bullen und Milchkühe, strömten die Herden aufs Gelände der MFP-Fabrik.
Shanti sah das Erstaunen in den Gesichtern der Schwarzmäntel und Fleischhauer, als die Menge an Auserwählten ins Unermessliche wuchs. Die bleichen Massen menschlichen Viehs hielten geradewegs auf die beiden verfeindeten Lager zu. Zwar war in den Gesichtern der Auserwählten nicht ein Hauch von Böswilligkeit oder Arglist zu sehen, aber es gab auch keine Anzeichen von Furcht oder Unterwürfigkeit. Mit erhobenen Köpfen, Auge in Auge mit ihren Peinigern, strebten die Auserwählten mit schleppenden Schritten voran.
Beinahe zeitgleich brachen unter den Schlachtarbeitern zwei Handgemenge aus. Zuerst dachte Shanti, sie würden nun über die eigenen Leute herfallen. Dann öffneten sich ihre Reihen, und heraus traten Collins und seine verbliebenen Anhänger ― jeder von zwei Männern eskortiert.
Torrance und Bruno bauten sich vor ihnen auf. Torrance zeigte mit dem Finger auf die Ecke des Schlachthauses.
Auf ihn.
»Das ist alles dein Werk, Shanti. Ich habe dich beobachtet, mein Freund. Du sprichst ihre Sprache, nicht wahr? Du kontrollierst sie.«
Als hätte man einen Scheinwerfer auf ihn gerichtet, konzentrierte sich nun alles auf ihn.
»Die Saat hierfür wurde bereits vor Jahren gesät. Wäre ich es nicht gewesen, hätte jemand anderes es getan.«
»Blödsinn. Du und Collins, ihr seid durchtrieben. Gäbe es euch nicht, stünde in dieser Stadt auch weiterhin alles zum Besten. Wenn wir uns euch vom Hals schaffen, wird schon bald wieder alles seinen geregelten Gang gehen.«
Torrance nickte zweien seiner Männer zu. Sie traten von Collins zurück, und Torrance schlug ihm mit einem Brecheisen von hinten in die Beine. Er fiel auf die Knie. Dann trat er ihm mit dem Stiefel in den Rücken, und Collins stürzte auf die Seite. »Haltet ihn am Boden.« Er zog ein scharfklingiges Ausbeinmesser aus der Scheide an seiner Hüfte und hob es hoch. »Sie alle werden sterben, Shanti. Es sei denn, du rufst die Herden zurück und schickst sie wieder dorthin, wo sie hingehören: auf die Weiden.«
Collins suchte Shantis Blick. Er schloss die Augen und schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Shanti war der Einzige, der es sehen konnte. Als er die Augen wieder öffnete, war Collins' Blick fest und gelassen, aber tief im Inneren loderte die Flamme eines Freudenfeuers. Shanti konnte das Licht in seinem Inneren leuchten sehen.
»Sieh dir an, wie viele es sind, Torrance«, sagte Shanti. »Trotz eurer Waffen sind die Auserwählten euch überlegen. Selbst wenn einige von ihnen sterben, werden sie euch am Ende überwältigen.«
»Du hörst mir nicht zu, Shanti. Vielleicht verstehst du mich auf diese Weise besser.«
Torrance hockte sich hinter Collins, presste ein Knie auf seinen Kopf und entblößte seinen Hals. Zum ersten Mal fiel Shanti die Narbe auf, die sich von Collins' Adamsapfel bis zwischen seine Schlüsselbeine zog. Er hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Torrance setzte das Ausbeinmesser auf die weiche Haut von Collins' Hals und begann zu sägen ― als wäre Collins bereits tot.
Shanti sah, wie die Augen seiner Freunde sich vor Entsetzen weiteten. Torrance hielt inne. Er hatte bereits die Arterien, Venen und Collins' Luftröhre durchtrennt. Eine unfassbare Menge Blut bedeckte Torrances Hände und Collins' Gesicht. Es versickerte im Boden. Collins versuchte gegen seinen Überlebensinstinkt anzukämpfen, doch der war zu stark. In dem Wissen, dass sich die Klinge bereits seinen Wirbelknochen näherte, begann er sich aufzubäumen. Doch schlagartig ließ die Anspannung seines Körpers nach. Er erschlaffte, die Augen immer noch weit aufgerissen, als Torrances Messer zwischen den vierten und fünften Halswirbel glitt. Torrance sägte unter Mühen weiter, bis er den Kopf abgetrennt hatte. Weil der keine Haare mehr hatte, an denen er ihn packen konnte, steckte er seine Finger in Collins' Mund und hob den Kopf in die Höhe.