Sebastian (61 page)

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Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

BOOK: Sebastian
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Es geschah. Das Urteil des Herzens.
Ich und Ephemera schenken dir, wonach du dich am meisten sehnst.
»Sebastian«, flüsterte sie, löste sich von Lee und ging einen Schritt auf den Mann zu, der sie Lachen und Lieben gelehrt hatte. Der ihr die Möglichkeit geschenkt hatte, zu entdecken, dass sie mehr war, als das, was sie laut Mutter, Vater und Ewan sein konnte. Sie war eine Löwin, und sie konnte mit ihrem Leben alles tun, was sie wollte.
Alles.
Folge deinem Herzen.
Sie machte noch einen Schritt, fühlte sich, als würden starke Winde sie hin und her werfen, doch kein Wind zerrte an ihren Kleidern oder strich über ihre Haut.
Der Wind der Veränderung. Und sie konnte alles haben, was sie wollte.
»Sebastian«, flüsterte sie erneut und ging noch einen Schritt nach vorne.
Er verdiente keinen Ort, der düster, verlassen und kalt war. Er verdiente es, im Pfuhl zu leben, wo man ihn als Rechtsbringer brauchte. Und er verdiente es, in seinem Cottage zu wohnen, wo er einfach nur ein Mann sein konnte. Und er verdiente Sonnenlicht und Wärme und Freunde und eine Familie und … Liebe.
Sie machte noch einen Schritt. Und noch einen.
Diese niederträchtigen Männer hatten ihm etwas angetan, hatten ihn glauben gemacht, er verdiene diese Dinge nicht, genauso wie Mutter sie hatte glauben lassen,
sie
verdiene sie nicht. Nein. Mutter hatte sie gar nichts glauben lassen. Sie war nur nicht stark genug gewesen, um an etwas anderes zu glauben.
Aber nun war sie stark genug. Sie war eine Löwin.
Er braucht mich.
Wenn er nicht in der Lage war, es selbst zu glauben, würde
sie
es für ihn glauben.
Folge deinem Herzen.
Sebastian. Sebastian. Sebastian.
Sie rannte, während der Boden unter ihren Füßen nachzugeben schien. Sie rannte, den Blick stets auf Sebastian gerichtet.
Er war der Wunsch ihres Herzens. Sie verdienten Gelächter und Freunde und Liebe. Sie verdienten es, im Cottage zu leben, im Sonnenlicht. Und sie verdienten den Pfuhl, dieses seltsame Fest der Sinnlichkeit. Und sie verdienten es, zusammen zu sein.
Sebastian. Sebastian. Sebastian.
Sie fühlte, wie die Welt sich verschob, wie sie versuchte nach ihrem Herzen zu greifen, um sie davonzutragen.
Noch nicht. Noch nicht.
Sie hielt auf ihn zu, bemühte sich mit allem, was in ihr steckte, ihn zu erreichen, bevor die Welt sie fortwehte.
Näher. Näher.
Seine Augen waren geschlossen. Deshalb sah er sie nicht, reagierte nicht auf sie. Aber sie hatte keinen Atem, um nach ihm zu rufen. Also ließ sie ihr Herz für sich sprechen.
Sebastian!
Plötzlich öffnete er die Augen. Seine wunderschönen grünen Augen, die nicht länger leer waren. Sie waren erfüllt von Erschrecken, Unglauben und einer ängstlichen Sehnsucht.
Ephemera zog sie fort. In einem Augenblick würde es zu spät sein.
Mit aller Kraft, die ihr zu Verfügung stand, sprang sie.
Das Letzte, was sie sah, war Sebastian, der die Hände ausstreckte, um sie zu aufzufangen. Das Letzte, was sie fühlte, war, wie er seine Arme um sie schlang.
Dann trug die Welt sie fort … und sie sah nur noch Dunkelheit.
 
Glorianna schwankte, kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Sie fühlte sich ausgehöhlt und leer.
Wahnsinn. Ein Wahn musste sie dazu veranlasst haben, zu glauben, sie könne das Urteil des Herzens über eine ganze Landschaft sprechen. Aber …
Die Stadt war erfüllt von Dunklen Strömungen, die ihrer Dunklen Resonanz nicht entsprachen. Und die Herzen in der Stadt, die sich nach dem Licht gesehnt hatten …
Waren fort. Alle fort. Frei von diesem Ort.
Sie sah sich um. Sebastian und Lynnea waren verschwunden, und sie hoffte aus ganzem Herzen, dass sie das Richtige für beide getan hatte.
Alle waren verschwunden … außer einem Zauberer mit verbundenem Fuß. Stöhnend lag er auf dem Boden.
Sie blickte hinauf zur Stadt, dann zu dem Mann. Er war keiner von ihnen, aber ihnen doch zu ähnlich. Hatte es einen Moment gegeben, in dem sein Herz eine Wahl getroffen hatte? Lag er deshalb immer noch vor der Stadt?
Mitleid regte sich in ihr, und sie fragte sich, ob es etwas - irgendetwas - gab, das sie tun konnte, außer ihn elendig an diesem Ort liegen zu lassen.
Dann erblickte der Zauberer sie und bemühte sich, aufzustehen.
»Glorianna«, sagte Lee mit leiser Stimme. »Geh einfach rückwärts. Ich bin genau hinter dir, auf der Insel. Verschwinde, bevor der Bastard die Chance hat, dir etwas anzutun.«
Sie ging zwei Schritte zurück, dann blieb sie stehen. »Ich muss es zu Ende bringen. Wenn ich es nicht tue, waren all die Gefahren, die wir auf uns genommen haben, vergebens.«
»Glorianna.«
Sie griff nach aller Macht in ihrem Innern, die sie noch übrig hatte - und veränderte die Landschaft, nahm den Teil Ephemeras, der die Stadt der Zauberer festhielt, aus der Welt.
So erschöpft, dass sie kaum noch stehen konnte, machte Glorianna noch einen Schritt auf Lee und die Insel zu. Beinahe hatte sie es geschafft. Beinahe.
»Du dummes Luder!«, schrie der Zauberer. »Was hast du dem Rat angetan?«
»Ich habe das Urteil des Herzens über sie gesprochen«, antwortete sie, obwohl ihre Stimme so kraftlos war, dass sie bezweifelte, dass er sie hören konnte.
Wut verzerrte sein Gesicht. Er hob eine Hand.
Sie starrte ihn an, wusste, was geschehen würde, aber sie war zu erschöpft, um sich zu bewegen.
Dann packte Lee sie und zog sie auf die Insel, gerade als der Blitz des Zauberers den Boden traf, auf dem sie einen Moment zuvor noch gestanden hatte.
»Das war zu knapp«, sagte er. Er klang gleichzeitig wütend, ängstlich und erleichtert.
»Ich weiß.« Ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Lee?«
Dann verschwand alles im Nichts.
 
Unkraut wächst in jedem Garten.
 
-
Das Buch der Lektionen
 
Was man in einem Garten für Unkraut hält,
ist eine höchst nützliche Pflanze in einem anderen.
 
-
Belladonna
Kapitel Sechsundzwanzig
Noch immer verängstigt und wütend.
Das war Gloriannas erster Gedanke, als sie die Augen aufschlug und in Lees Gesicht blickte. »Was ist passiert?«
»Du bist ohnmächtig geworden. Mach das nie wieder.«
»Mir hat es auch nicht besonders gut gefallen«, murrte sie. Er sah zornig genug aus, um sie zu schlagen, aber in dem Moment, in dem sie versuchte, sich aufzusetzen, war er da und half ihr. Dann saß sie da, fest an seine Brust gedrückt, und er hielt sie im Arm, während er sie beide sanft vor und zurückwiegte.
Er zittert.
»Lee«, sagte sie und schlang die Arme um ihn.
»Es hat mir Angst gemacht, Glorianna. Als ich gesehen habe, wie dieser Bastard die Hand gehoben hat, war ich mir nicht sicher, ob ich bei dir sein könnte, bevor …« Er schluckte trocken. »Es hat mir Angst gemacht.«
»Mir auch.« Aber gemeinsam mit dem Klang des Wassers, das plätschernd in den Brunnen rann, begann die Melodie seines Herzschlags, der sich beruhigte und wieder seinen normalen, stetigen Rhythmus aufnahm, sie fortzutragen. »Lee?«
»Hm?«
»Ich bin so müde. Können wir uns später anschreien?«
Er antwortete so lange nicht, dass sie schon fast eingeschlafen war. Dann sagte er später: »In Ordnung. Wir streiten uns später. Bleib einfach hier sitzen, während ich die Insel zurück in die Heiligen Stätten versetze. Vorher hat mir wohl die Ruhe dazu gefehlt.«
Er stand auf und verließ den geschützten Mittelpunkt der Insel.
Sie bemerkte es, als er die Insel verschob - nicht, weil sich etwas an der Insel veränderte, sondern an der Resonanz des Landes um sie herum.
Starke Strömungen des Lichts durchzogen die Landschaft zusammen mit einem schmalen Band der Dunkelheit.
Glorianna kämpfte darum, dass ihr die Augen nicht zufielen, kämpfte darum, ihren Verstand wachzuhalten. Die Machtströmungen der Heiligen Stätten und die der Stadt der Zauberer waren das genaue Gegenteil. Eine Strömung beherrschte die Landschaft, aber ein dünnes Netz der anderen blieb, war trotz allem notwendig. Sie wusste, warum sie dieses Netz in den Heiligen Stätten aufrechterhielt. Was hatten die Zauberer davon, die dünnen Fäden des Lichts zu erhalten?
Wenn sie das erst einmal verstanden hätte, wäre sie vielleicht in der Lage, herauszufinden, wie sie dem Weltenfresser entgegentreten konnte … und überlebte. Aber jetzt …
Sie fühlte, wie jemand an ihr zog, ihre Haltung veränderte. Dann küsste Lee ihre Stirn und sagte: »Ruh dich jetzt aus, Glorianna. Schlaf ein wenig.«
 
Schweißnass und nach Atem ringend - und mit dem Wunsch, dass Sebastian in der schlimmsten Landschaft gelandet war, die es auf dieser Welt gab - humpelte Koltak die letzten Stufen zu Harlands Räumen hinauf. Harland musste da sein. Harland musste es gut gehen, obwohl diese Schlampe versucht hatte, den Rat der Zauberer mit dem Urteil des Herzens anzugreifen.
Es war die reinste Quälerei gewesen, sich auf den Ponywagen zu hieven und zurück in die Stadt zu fahren. Was war mit den Wachen und Fahrern geschehen, die den Rat begleitet hatten? Und wo war der Rat?
Als er die Treppe erklommen hatte, blieb Koltak stehen, um sich auszuruhen.
Die Ordnung musste wieder hergestellt werden - und das schnell. Er war durch Straßen gefahren, auf denen es vor aufgebrachten, verwirrten Menschen wimmelte, die erkannten, dass
irgendetwas
mit ihnen geschehen war, aber nicht
was
mit ihnen geschehen war. Wenigstens in den höher gelegenen Teilen der Stadt herrschte ein wenig mehr Ordnung im Chaos. Hier fanden sich hauptsächlich Diener und Hausdamen, die vor den Häusern standen und die Namen vermisster Bediensteter riefen. Nicht, dass auch nur einer dieser Bediensteten antworten würde.
Das Urteil der Herzens.
Koltak schauderte. Wer hätte selbst in seinen wildesten Träumen gedacht, dass eine Landschafferin so mächtig sein könnte, das Urteil des Herzens durch eine ganze Stadt fegen zu lassen?
Mächtig. Aber nicht unbesiegbar. Er hatte es geschafft, sich zu widersetzen und daran festzuhalten, wo er war, anstatt in eine andere Landschaft versetzt zu werden. Wenn
er
ihr standhalten konnte, waren Harland und der übrige Rat sicher in der Lage gewesen, es ihm gleichzutun.
Koltak blieb stehen und stützte sich schwer auf seine Krücken, als ihm ein Gedanke kam. Natürlich hatten die meisten Mitglieder des Rates sich Belladonnas Angriff widersetzt, und nun gäbe es vielleicht eine freie Stelle, die von einem Zauberer besetzt werden musste, der mit Belladonna gekämpft und ihr widerstanden hatte?
Aufregung trieb ihn eilig den Flur hinunter. Als er Harlands Tür erreichte, stieß er sie auf und ging hinein, erleichtert, den hochgewachsenen Zauberer zu sehen, der am Fenster stand und eine zerknitterte, mit Grasflecken übersäte Roben trug.
»Harland! Ich -«
Was sich vom Fenster abwandte war Harland - und war es doch nicht. Eine menschliche Gestalt … aber kein Mensch. Furcht einflößend, aber doch unwiderstehlich.
Koltaks Herz schlug hart gegen seine Rippen. Er wusste, was er ansah. Er konnte es nur nicht glauben.
Harlands Augen sprühten vor Wut. »Es war noch nicht an der Zeit, unser wahres Gesicht zu zeigen.
Es war noch nicht an der Zeit!«
»Wächter der Dunkelheit«, flüsterte Koltak und erkannte im selben Moment, dass selbst diese Äußerung der Erkenntnis ein Fehler gewesen war.
Lächelnd bewegte Harland sich auf ihn zu. »Wir haben uns gut versteckt, nicht wahr? Rechtsbringer. Verteidiger des Lichts. Diejenigen, die bereit sind, die Last der Entscheidung zu tragen, wer es nicht wert ist, in den Landschaften des Tageslichts zu leben. Indem wir das Herz von aller Hoffnung befreit, indem wir glückliche Erinnerungen in etwas Schmerzvolles verwandelt, indem wir das Herz vorbereitet haben, bevor wir eine Landschafferin riefen, um das Urteil zu vollstrecken … Wir konnten den Weltenfresser nicht erreichen, aber mit der unbewussten Hilfe der Landschafferinnen waren wir in der Lage, Ihn zu benutzen, um uns der Leute zu entledigen, die uns gefährlich werden konnten.« Sein Lächeln wurde breiter und bekam einen grausamen Zug. »Warum seht Ihr so erschrocken aus, Koltak? Ihr wolltet doch immer schon die verborgenen Geheimnisse des Rates in Erfahrung bringen. Jetzt erzähle ich sie Euch.«
Koltak konnte sich nicht rühren. Das war alles falsch. Ganz falsch.
»Wir haben uns gut versteckt«, sagte Harland. »So gut, dass die Landschafferinnen und Brückenbauer uns, als wir schließlich zuließen, dass sie uns bemerkten, als Verbündete aufgenommen haben. Mit der Zeit vergifteten wir ihren Verstand, blendeten sie, so dass sie die Wahrheit über diejenigen, deren Macht so anders war als die
ihre, nicht erkennen konnten. Generation um Generation halfen sie uns, die wahren Wächter des Lichts zu vernichten und Ephemera auf den Tag vorzubereiten, an dem
wir
die Herrschaft über die Welt übernehmen würden.« Er verzog den Mund und knurrte.
»Nur einmal haben wir versagt.
Und dank Eures Bruders ist
diese
Feindin mächtiger als alle anderen vor ihr.«

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